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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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Ähnlichkeit gesehen.«
    Sie nickte.
    »Glauben Sie, einer Frau, die wie seine erste Frau aussah, zuzuschauen …«
    »… wie sie sich wie eine puta benimmt«, fügte sie für ihn hinzu.
    »… hätte Raúls Schuldgefühle irgendwie gelindert?«
    Sie zuckte die Achseln, stand auf, strich ihren Rock glatt und sagte, sie müsse jetzt zum Mittagessen.
    Als er zum Edificio de los Juzgados zurückging, war der Tag wieder grau geworden, der Himmel bewölkt, und die Palmwedel knackten im Wind. Ramírez erwartete ihn mit einer dicken Aktenmappe unter dem Arm vor dem Edificio de los Juzgados. Nachdem sie die Sicherheitskontrolle passiert hatten, zog er einen Zettel aus der Mappe, eine Liste von Raúl Jiménez’ Besitztümern, die in dem Lager von Mudanzas Triana aufbewahrt wurden.
    Auf dem Weg hinauf zu Juez Calderóns Büro überflog Falcón die Liste, die unter anderem eine komplette Hobbyfilmer-Ausstattung umfasste: eine 8mm-Kamera, Filmdosen, einen Projektor und eine Leinwand. Der Juez erwartete sie hinter seinem Schreibtisch, stehend, die Hände aufgestützt, als würde er erwägen, sie direkt wieder in den Flur zurückzudrängen.

18
    Dienstag, 17. April 2001,
    Edificio de los Juzgados, Sevilla

    Falcón und Ramírez schalteten ihre Handys aus und nahmen vor Calderón Platz, der seine geschäftsmäßige Haltung wahrte, bis sie es sich bequem gemacht hatten. Erst dann ließ er sich selbst auf seinen Stuhl sinken, wobei es ihn immense Mühe zu kosten schien, seinen Zorn zu zügeln.
    »Fangen Sie an«, sagte er und legte seine Fingerspitzen aufeinander, »am besten mit den neuesten Ergebnissen bezüglich des Hauptverdächtigen.«
    »Was das betrifft, sind wir einen großen Schritt weiter«, sagte Falcón, und Ramírez zog aufs Stichwort die beiden retuschierten Vergrößerungen des mutmaßlichen Mörders aus der Akte und gab sie Calderón. »Wir glauben, dass das unser Mörder ist.«
    Calderón riss die Augen auf, als Ramírez ihm die beiden Bilder über den Schreibtisch schob, runzelte jedoch sofort wieder grimmig die Stirn, als er erkannte, dass keine der beiden Aufnahmen eine positive Identifizierung zuließ. Derweil berichtete Falcón von den Umständen ihrer Entdeckung. Seine Stimme klang in seinen eigenen Ohren seltsam körperlos, als wäre er ein Nicht-Mensch geworden, ein Wörter generierender Roboter. Er war so abgrundtief erschöpft, dass er das Gefühl hatte, sich von sich selbst zu lösen und zuzuhören, wie eine Phrase nach der anderen aus seinem Mund sprudelte: »… vermutlich männlich zwischen 20 und 40 …«, »… eine weitere Entwicklung …«, »… ein Pornovideo …«, »… unsere Sicht auf die Hauptverdächtige …« Er hielt erst inne, als Calderón die Hand hob und den Bericht über den Pornofilm las, bevor er seine Hand wieder sinken ließ. Falcóns Tonband sprang erneut an, und er fragte sich, wie viele Worte ein Mensch in seinem Leben von sich gab. »Die Prostituierte Eloisa Gómez …«, »… seit letztem Freitag vermisst …«, »… Kontakt hergestellt …«, »… gestohlenes Handy …«, »… befürchtete Ermordung …« All das schien so lange her und war doch gerade erst passiert, dachte er. Und die Untersuchung von Raúl Jiménez’ Privatleben – die Entführung des Jungen, der Selbstmord der Frau, der Wahnsinn der Tochter, die Neurosen des Sohnes – wie aus einem anderen Jahrhundert Doch so war es ja auch. Von nun an war all das aus einem anderen Jahrhundert. Eine große Tranche der Geschichte ist abgetrennt worden, damit wir erneut mit der Akkumulation beispielloser Verbrechen beginnen können …
    »Inspector Jefe«, sagte Calderón, »Ihre historischen Spekulationen haben nichts mit dem Fall zu tun.«
    »Nicht?«, fragte er, und die jähe Angst, beim laut vor sich hin Reden erwischt worden zu sein, bescherte ihm einen Gedanken, der sich, so hoffte er inständig, als Geistesblitz erweisen würde. »Ein Motiv ist immer historisch, wenn es nicht psychotisch ist. Die Frage ist nur, wie weit wir zurückgehen müssen. Bis zum vergangenen Monat, als Raúl Jiménez versucht hat, seine Restaurants an Joaquín López zu verkaufen? Bis ins letzte Jahrzehnt, als er den Vorsitz des Bauausschusses für die Expo ’92 hatte? Oder 36 Jahre zurück, als sein Sohn verschleppt wurde?«
    »Wir sollten uns auf die vorliegenden Fakten konzentrieren«, sagte Calderón. »Sie sind ein Inspector Jefe mit fünf Ihnen unterstellten Beamten; mit diesen Ressourcen können Sie nur begrenzt viel

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