Der Blumenkrieg

so unerwartet kam. Die ganzen als Kind gelernten Lektionen, die sie längst vergessen zu haben meinte, die berühmten alten Sagen, über die sie und die anderen Mädchen sich nach den Jungblütentreffen immer lustig gemacht hatten, sie waren durchaus nicht aus dem Gedächtnis verschwunden. Und ob sie wahre Geschichten waren oder nicht, was spielte das schon für eine Rolle? Die Ideen waren richtig. Wenn der König die Königin erzürnte, dann neigte sie nicht einfach demütig das Haupt und fand sich damit ab. Sie ließ ihn sitzen, wenn ihr danach war. Sie nahm sich Liebhaber, machte ihn zum Hahnrei. Sie war die herrliche Titania, und in ihrem Zorn hätte sie meinen Vater und Fingerhut und diesen ganzen Klüngel wie Sägemehl verbrannt.
    »Laß mich in Ruhe, Malander«, sagte sie, drehte sich um und ging durch die dunkle Eingangshalle davon.
    Doch er dachte nicht daran, sie in Ruhe zu lassen. Sie hörte seine Schritte hinter sich. »Aha. Wir wollen also gejagt werden, was?«
    Sie konnte die Wachen rufen. Ein Wort, ja ein intensiver Gedanke nur, und der Heinzel würde ihm binnen Sekunden einen Trupp muskulöser Sicherheitskräfte auf den Hals hetzen. Sie war nicht irgendein Dienstmädchen, mit dem man sein Spiel treiben konnte, auch wenn er der Sohn einer der vornehmsten Familien war. Sie war eine Stechapfel – ihr Vater war der Ratsvorsitzende. Doch falls er nicht still nachgab, falls er Krach schlug und eine große Szene machte, dann würde Papa ihr deswegen in den Ohren liegen …
    Sie forschte tief in ihrer Erinnerung nach einem Zauber. Sie hatte diesen Zauber schon seit Jahren nicht mehr benutzt, seit damals, als sie und die Jungfernrebenschwestern Calpurnia und Julia sich aus dem Wohnheim geschlichen hatten und bei ihrer spätnächtlichen Rückkehr von Frau Fetthenne abgepaßt worden waren; die alte Fetti war so wütend gewesen, daß ihre Brillengläser anliefen. Poppi flüsterte unhörbar die Worte, fühlte nach dem Gedanken, wie ihre Lehrer es ihr einst beigebracht hatten – er war ein zappeliges Ding, klein, glänzend und so schwer zu greifen wie ein Fisch in trübem Wasser –, und packte ihn.
    »Poppi? Eisen und Blut, wo bist du hin? Poppi?«
    Sie verkniff sich das Kichern, weil Malander Fingerhuts scharfe Sinne sie sonst sofort entdeckt hätten, Zauber hin oder her, drehte sich um und ging direkt an seiner ausgestreckten Hand vorbei. Den Anblick seines verdatterten und verärgerten Gesichts im Schein des Elementarfeuers prägte sie sich ein, um sich später daran zu weiden. Doch er war wachsam: Er spürte den schwachen Hauch, als sie vorbeiging, und haschte nach ihr, griff aber daneben. Sie eilte zur Treppe. Den Fahrstuhl nach oben nahm sie besser erst auf der nächsten Etage.
     
    D as ärgerliche an Fahrstühlen, sagte sie sich, während sie sich zum letzten Stockwerk hinaufschleppte, dem fünfundzwanzigsten nach ihrer Zählung, das ärgerliche war, daß sie bei Störfällen nicht funktionierten. Diese immer häufiger auftretenden Pannen wurden langsam richtig lästig, und diese jetzt kam besonders ungelegen. Sie konnte von sich aus genug Kraft erzeugen, um ein oder zwei kleine Geräte zu betreiben – sie war nicht die fleißigste Schülerin gewesen, doch sie besaß natürliche Begabung –, aber die Fahrstühle liefen alle über den Hauptanschluß. Um einen in Gang zu setzen, müßte sie alle in Gang setzen, und das hätte selbst ihr Vater trotz seines Alters und seiner Erfahrung nicht allein fertiggebracht.
    Wir haben uns zu Gefangenen in unseren eigenen Häusern gemacht, dachte sie, obwohl sie zugeben mußte, daß sie damit die Situation allzusehr dramatisierte.
    »Ich bemühe mich, Notenergien zu aktivieren«, sagte der Heinzel ihr ins Ohr – ihr und allen anderen im Haus. »Ich werde den Normalbetrieb im Haus so schnell wie möglich wiederherstellen.«
    Poppi war auf der Treppe an etlichen Dienstboten und Hausangestellten vorbeigekommen, von denen einige sich blind vorantasteten und andere selbstgemachte kleine Lichter in der Hand hielten. Wenn sie es nicht gewohnt gewesen wäre, Untergebene zu übersehen, hätte sie es vielleicht merkwürdig gefunden, daß niemand sie zur Kenntnis nahm, ja, daß viele beinahe mit ihr zusammenstießen und nicht einmal eine Verbeugung oder einen Knicks andeuteten. Doch das anstrengende Treppensteigen am Ende einer langen, verwirrenden und letzten Endes völlig mißlungenen Nacht machte sie noch unaufmerksamer, als sie sonst schon gewesen wäre, und zudem