Der Blumenkrieg
unmöglich, wenn ich gestehe, daß ich ihn heute nachmittag mit dem Vorsatz gekauft habe, zu dir zu kommen?« Sie riß das Säckchen auf, dann stemmte sie sich hoch, bückte sich und sprenkelte das schimmernde Pulver in einem weiten Kreis um sie herum. Die Luft über der Pulverlinie am Boden flimmerte; es hätte auch eine Täuschung sein können, verursacht durch das schwindende Mondlicht, aber Theo war ziemlich sicher, daß dem nicht so war. Das Flimmern wuchs mit erstaunlicher Schnelligkeit in die Höhe und strebte in einem Punkt etwa zwei Meter über dem Boden zusammen.
»Du meinst … niemand kann uns jetzt sehen?« Er blickte sich um. Die Seiten verzerrten das Licht wie dickes Glas und ließen die Sterne verwackelt erscheinen, doch sie waren keineswegs undurchsichtig. Viel wärmer war ihm auch nicht. Das ganze Erlebnis war aufregend, aber seltsam; er zitterte wieder, und nicht allein vor Kälte.
»Niemand kann hereinschauen, ja, wenn einer nicht direkt daneben steht, wird er den Pavillon überhaupt nicht bemerken.« Sie nahm seine Hände und drückte sie. »Dir ist wirklich kalt, was? Tut mir leid, Theo. Der Laden, wo ich ihn gekauft habe, hatte nur diese billigen. Wir müssen ihn mit unserer eigenen Körperwärme aufheizen – aber das dürfte doch nicht so schlimm sein, oder?« Sie schlüpfte aus ihrem Mantel und zog sich den Pullover über den Kopf, dann machte sie ihre Bluse auf. Sie trug nichts darunter als eine dünne silberweiße Kette um den Hals; ihre blasse Haut schien wie der Mond. Er streckte die Hand aus und berührte ihre Brust. »Aber sehr warm ist es noch nicht hier drin, was?« Sie lachte, doch sie klang nervös. »Guck, Gänsehaut!«
Da zog er sie an sich, und als er schließlich den fremdartigen Mechanismus der Verschlüsse an ihren anderen Sachen durchschaut hatte (man mußte mindestens viermal darauf pochen), hatte er die Temperatur und etwaige Zuschauer vergessen, hatte fast alles vergessen außer der schwarzhaarigen Frau, die er küßte, und den gleißenden Sternen, die er wie unter Wasser sah, und auch die Sterne vergaß er bereits.
Irgendwann schob sie sich ein Stück von ihm weg und sagte ein wenig außer Atem: »Ich habe noch andere Zauber.«
»Wofür?« Es war schwer, sich nach langen Minuten nahezu vollkommener wortloser Kommunikation wieder der Sprache zu bedienen.
Ihm kam ein Gedanke. »Empfängnisverhütung? Ich meine, gegen das Kinderkriegen?«
»Schwarzes Eisen, nein!« sagte sie und kicherte. »Die Zauber lernen wir beim ersten Bluten, und für diesen Monat habe ich meine schon gemacht. Nein, dies hier sind bloß … Liebeszauber. Kleinigkeiten, um die Sache, ich weiß nicht, interessanter zu machen. Sie waren beim Pharmazeuten im Angebot.« Sie wandte schüchtern den Blick ab. »Ich dachte nur, daß du vielleicht …«
»Außer dir brauche ich nichts.« Ob nun geschärfte Sinne oder die Enge in dem Zauberkreis daran schuld waren, jedenfalls war der Geruch ihrer Haare und ihrer Haut so stark wie jede Droge. »Und außer dir will ich nichts. Für mich ist das Magie … Pardon … Wissenschaft genug.«
»Ich bin so froh, daß du das sagst.«
Und dann hörten sie wieder auf zu reden. Die Van-Gogh-Sterne glitzerten wie Schneeflocken am kalten Himmel, doch im Innern des Pavillons war die Luft so warm geworden wie im Hochsommer.
35
Ein beinahe verwandtschaftliches Verhältnis
A uch im nächsten Traum ging es um seine Eltern. Wieder war er von Wolken umhüllt, von Rauchwolken in einem Krankenhausflur, oder vielleicht war es auch die Narzissen-Residenz, denn die gespenstischen Gestalten in den Gängen konnten ebenso von Asche bedeckte Opfer sein wie einfach Patienten in weißen Krankenhauskitteln. Er suchte nach seinem Vater, rief nach ihm – aber nicht nach »Pete« (wie Theo ihn mit Anfang zwanzig in der hilflosen Phase der Suche nach einem gemeinsamen Grund genannt hatte), nicht einmal nach »Papa«.
»Papi! Papi, wo bist du?«
Er meinte ihn durch den Dunstschleier zu erkennen, wie er am Ende des Flurs um die Ecke bog: hängende Schultern, schütter werdende Haare, eines der Hawaii-Hemden an, die er jeden Samstagmorgen anzog, wie um sich zu beweisen, daß tatsächlich Wochenende war. Als Jugendlicher hatte Theo es gar nicht fassen können, daß für den Alten ein Hawaii-Hemd allen Ernstes etwas Cooles war, das Symbol eines klitzekleinen Aufbegehrens gegen graue Anzüge, weiße Hemden und häßliche Krawatten.
»Papi?« Ihm fiel ein, zumindest dem Theo im
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