Der Blut-Mythos
Es brauchte nicht jeder zu hören, was er mit Sir James zu besprechen hatte.
Shao blieb zurück. Sie schaute auf die Brandstelle und sah sie trotzdem nicht. Ihr Blick verlor sich in der Ferne. Wie ihre Gedanken taten.
Schon oft war sie mit rätselhaften Fällen konfrontiert worden. Dabei hatten sich immer wieder Möglichkeiten ergeben, nachzuforschen und zu Ergebnissen zu gelangen.
Das war hier nicht möglich.
John Sinclair war kein Übermensch. Und trotzdem war es ihm gelungen, sich aus dieser Flammenhölle zu befreien.
Wie war das möglich?
Shao kannte die Antwort nicht. Sie drehte nur den Kopf und schaute gegen den dunkel gewordenen Himmel, als könnte sie dort die Antwort herausfinden.
Sie sah nichts. Keinen Schatten einer riesigen Fledermaus mit einem blutigen D auf der Stirn, die durch die Nacht segelte und auf der Suche nach Opfern war.
Nur die bunte Beleuchtung des Rummels flackerte durch die Dunkelheit himmelwärts, verteilte dort die Farben zu zuckenden Gebilden. Shao kamen sie vor wie monströse Fratzen, die auf sie niederschauten und sie auslachten…
***
Das Feuer hatte mich gestreift. Dieser verdammte, heiße Hauch, der wie der Atem des Teufels über meine Gestalt hinweggefahren war, als wollte er mich verschlingen.
Aber das war nicht passiert. Ich war ihm entkommen.
Doch wie entkommen?
Für mich war es nach wie vor ein Rätsel. Ich hatte nur gesehen, daß Chronos die Zeiger seiner ungewöhnlichen Uhr bewegt hatte. Zu welcher Seite hin, war mir unbekannt. Jedenfalls hatte er das uns umgebende Raum-Zeit-Gefüge zusammenbrechen lassen und es geschafft, uns woandershin zu transportieren.
Doch wohin?
Daß ich auf dem Boden lag, war mir längst bewußt geworden. Daß ich mich normal bewegen konnte, ebenfalls, und ich hatte mir bei dieser Reise auch nichts getan, aber ich konnte mir vorstellen, nicht mehr in meiner Zeit zu sein. Chronos hatte mich und Marita mitgezerrt, so daß ich nach wie vor in seiner Nähe war und so etwas wie einen Leibwächter für ihn spielte.
Noch hatte ich mich nicht getraut, die Augen zu öffnen. Ich nahm meine Umgebung zunächst mit den anderen Sinnen wahr. Sofort nach dem Erwachen war mir das leise Plätschern aufgefallen. Es konnte nur bedeuten, daß ich in der Nähe eines Baches oder eines Flusses lag.
Und es war warm, angenehm warm. Die Luft war frisch und gut zu atmen. Der Duft der Nadelhölzer wirkte beruhigend.
Vogelstimmen machten die Idylle beinahe perfekt. Der Boden unter mir war weich wie Moos.
Ich öffnete die Augen, blinzelte, denn die Sonne stand hoch über mir. Sie schien auf die Bäume eines Waldes, und ihre Strahlen wurden von den Blättern gefiltert oder abgelenkt, so daß ein helles Tupfenmuster auf dem dunklen Grün des Bodens lag.
Das sah ich, als ich mich aufgerichtet hatte. Ich war froh, daß mir nicht schwindelig war. Ich schaute nach links. Dort floß tatsächlich ein Bach durch ein schmales Bett. Das Ufer war mit Buschwerk gesäumt. Es bildete einen regelrechten Wall.
Einen Ort oder ein Haus sah ich nicht. Ich lag hier in der freien Natur und drehte den Kopf zur anderen Seite hin.
»Hallo, John!«
Die weibliche Stimme sorgte für ein leichtes Erschrecken. Da ich in Gedanken versunken war, hatte mich diese Ansprache überrascht. Gesprochen hatte Marita. Sie hockte auf einem großen Stein, der aussah wie ein abgeflachter Riesenkopf. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen und wirkte eigentlich ganz munter.
Als sie mein erstauntes Gesicht sah, fing sie an zu lachen. »He, was ist los?«
»Ich wundere mich noch immer.«
»Worüber?«
Blöde Frage, dachte ich. »Daß wir der Feuerhölle entkommen sind und jetzt hier sitzen.«
Sie lachte so glockenhell wie eine Schauspielerin in einer Heimatschnulze. »Mich wundert das nicht, denn ich kenne ihn.«
»Damit meinst du doch Chronos.«
»Ja, genau ihn.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter. Wir müssen es hinnehmen, und es ist einfach wunderbar.«
»Einfach so hinnehmen - das ist gut gesagt. Ich gehöre nicht zu den Typen, die das können. Ich bin ein Mensch, der gern nach den Gründen fragt, wie Sie sich denken können. Deshalb würde es mich interessieren, wo sich Chronos aufhält.«
»Das weiß ich auch nicht. Er wird hier irgendwo sein.«
»Wie schön«, sagte ich und verzog das Gesicht. »Aber du verstehst, daß es mir zuwenig ist.«
»Ja, schon.« Sie hob die Schultern. »Aber das macht doch nichts - oder, John?«
Ich ging nicht auf ihre Koketterie ein, sondern blieb bei der
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