Der blutige Baron - Lorenz - Der Buhmann
den Porträts waren unbedeutend gewesen im Vergleich zu dem Einschnitt, den der Vorfall bei der Heimkehr ihres Gatten ausgelöst hatte. Etwas in ihr riet ihr, den Block gleich wieder zuzuschlagen, doch sie tat es nicht. Sie tat es vielleicht deshalb nicht, weil sie fürchtete, einer Täuschung zum Opfer gefallen zu sein, und sich vergewissern wollte, ob diese Skizzen tatsächlich den Inhalt hatten, den sie darin zu erkennen glaubte.
Sie waren ausgesprochen dunkel gehalten, als hätte Eugen jeden Strich Dutzende Male nachgezogen, immer dicker und fester, und an vielen Stellen gab es Spuren, wie sie entstanden, wenn durch zu hartes Aufdrücken die Zeichenkohle abbrach. Es waren rund zehn Bilder, und sie zeigten Szenen des Todes. Friedhofsansichten – zunächst nur die Grabsteine, die schwermütigen Weiden, Kränze. Dann gab es Bilder von Särgen, die hinabgelassen wurden, Angehörige, die um das Grab herumstanden, manche weinend, manche linkisch grinsend. Schließlich drei dichte, fast völlig schwarze Skizzen von Leichen in Särgen, halboffene Münder, ins Leere starrende Augen, abgezehrte Gesichter von Menschen, die an Altersschwäche und Krankheit gestorben waren. Die letzte Zeichnung der Gruppe zeigte keinen Friedhof, sondern ein Krankenbett. Zwischen den blutbespritzten Laken das verzerrte Gesicht eines Mannes, dessen Bauchdecke eben von Ärzten geöffnet wurde.
Nach diesem Bild gab es eine leere Seite, und dann folgten die Skizzen, die er in den letzten Tagen von ihr angefertigt hatte. Sie strahlten Schönheit aus, wie sie am Anfang des Buches vorhanden gewesen war. Und doch fehlte ihnen etwas. Ruhe. Die Kohlestriche waren dicker als zuvor, kühner, wilder.
Ein Schwindel befiel Katharina, und sie hielt sich an seiner Schulter fest. „Eugen“, wisperte sie. „Es tut mir so leid. Jetzt verstehe ich, warum Sie mir das nicht zeigen wollten. Ich wusste nicht, wie sehr Sie darunter gelitten hatten … durch welche Hölle Sie gehen mussten …“
Eugen umfasste sie, weil er fürchtete, dass sie ihm zusammenknickte. Unwillkürlich streichelte er ihren Oberarm, drückte sie an sich. Ihr Kopf ruckte nach vorne und legte sich an seine Brust. „Es war keine Hölle“, sagte er. „Nur ein Fegefeuer. Es hatte einen Ausgang.“
Eine halbe Minute lang standen sie so da. Schließlich lösten sie sich voneinander. „Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich.
„Ja“, erwiderte sie. Ihre Stimme klang noch schwach. „Ich glaube, ich werde im Haus nach etwas zu trinken sehen.“ Katharina ging schwankend um das Gebäude herum und ließ einen verstörten Eugen zurück.
7
Als sie mit zwei gut eingeschenkten Gläsern Portwein die Küche verließ, schlug von der Seite her eine Hand gegen die ihre und schleuderte die Gläser durch den Raum. Katharina stieß vor Schreck einen gellenden Schrei aus – der Schmerz kam erst später, und sie massierte sich stöhnend das Handgelenk.
Lorenz von Adlerbrunn hatte neben der Tür gewartet, bis sie aus der Küche kam. Sein Gesicht war zu derselben Maske des Zorns geworden, die er ihr schon einmal präsentiert hatte. Es waren die schlimmsten Sekunden ihres Lebens gewesen, und allein die Ahnung, dass sich diese noch einmal wiederholen würden, brachte ihre Gedanken zu einem völligen Stillstand. Sie wusste plötzlich nicht mehr, was in den letzten Minuten geschehen war, konnte sich nicht erinnern, weswegen sie die Küche betreten hatte. Ihr Geist war ein weißes Papier. Alles, was sie begriff, war, dass sich hinter dieser verzerrten Fratze ihr Mann verbarg, dass eine krankhafte Emotion vollständig von ihm Besitz ergriffen hatte, und dass sie das Gegenmittel gegen diese nicht kannte.
„Nun ist es also geschehen“, knarrte er. Die Krankheit hatte seine Stimmbänder angegriffen, sie rau und sandig gemacht.
„Ja“, nickte sie und meinte etwas vollkommen anderes. Es ist wieder ausgebrochen , drehte es sich in ihrem Kopf. Der Zorn ist wieder ausgebrochen. Er wird wieder etwas zerstören. Das Bild auf der Staffelei. Die Bilder im Skizzenblock. Ich muss Eugen Bescheid geben. Er muss sich und die Bilder in Sicherheit bringen. Sie drängte an ihrem Mann vorbei, doch der hielt sie mit roher Gewalt zurück.
„Nun wirst du wohl nicht mehr meine Söhne beschuldigen.“ Sein Gesicht glomm dunkelrot, violett beinahe. „Nun habe ich es mit eigenen Augen gesehen.“
„Was …“ Sie musste sich zusammenreißen, ihre Gedanken ordnen. Wovon sprach er? Von ihr? Ihr und Eugen. Ja. Eugen wartete
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