Der Blutkelch
wurde, durfte nicht noch einmal benutzt werden. Dann warfen die Totengräber die
strophaiss,
Birkenzweige, hinab, um den Toten zu bedecken. Nun hielten sie abwartend inne.
Stille breitete sich aus. Abt Iarnla schaute in die Runde und suchte im Halbdunkel nach Saor und seinen Arbeitern.
»Wer von euch tritt vor und spricht ein paar Worte zu Ehren des Baumeisters Glassán?«, fragte er. »Wer von euchsingt das
écnaire
, das Lied der Fürsprache, auf dass Glassáns Seele Ruhe finde?«
Doch außer dem unruhigen Scharren von Füßen war nichts zu vernehmen. Niemand ergriff das Wort, niemand trat vor.
Da ertönte Bruder Lugnas kalte Stimme. »Was zu sagen war, wurde bereits beim Totenmahl gesagt. Lasst uns also fortfahren.«
Abt Iarnla wartete noch einige Augenblicke, stieß schließlich einen für alle hörbaren Seufzer aus und verkündete laut und deutlich: »Das hier ist Glassán, der einstige Baumeister der Abtei von Lios Mór. Solange diese Abtei steht, wird uns sein Werk an ihn erinnern. Ewiger Friede sei mit ihm.« Er bekreuzigte sich und gab den Totengräbern ein Zeichen, die daraufhin mit dem Zuschaufeln des Grabes begannen. Nur kurz blieben die Brüder noch stehen, dann löste sich die Versammlung auf. Einzeln und zu zweit machten sie sich auf den Weg zur Abtei.
Eadulf spürte, wie Fidelma ihn am Arm zurückhielt.
»Lass uns noch ein Weilchen warten«, flüsterte sie, »am besten hier im Schutz der Eiben hinter uns.« Und zu Gormán gewandt: »Du gehst bitte zur Abtei. Tu es nicht heimlich. Geh zum Gästehaus, als hättest du uns dorthin begleitet.«
Gormán verstand sofort, was sie damit bezweckte.
Eadulf folgte ihr widerstrebend. Beide verschmolzen mit der Dunkelheit, ohne dass sie jemand bemerkt hätte. Augenscheinlich hatte niemand das Bedürfnis, sich länger als nötig auf dem dunklen Friedhof aufzuhalten. Die kräftigen Totengräber hatten ihre Arbeit im Handumdrehen beendet, auch sie hielt es nicht unnötig lange an dem Ort. Im Nu waren sie fort. Für die beiden Wartenden wurde die Zeit eine Ewigkeit.
»Das wär’s dann wohl«, meinte Eadulf. »Hier gibt es nichts weiter zu sehen und …«
Unversehens zuckte er zusammen, denn Fidelma hatte ihn derb am Arm gepackt. Er wollte sich gerade empören, als aus dem Halbschatten eine Gestalt auftauchte – ohne Laterne, das Mondlicht genügte ihr. Sie trat an das frisch zugeschüttete Grab und blieb davor stehen.
Ein schadenfrohes Lachen ertönte. Fidelmas und Eadulfs Nackenhaare sträubten sich, so furchterregend klang es.
»Zu guter Letzt also doch, Glassán, endlich. Vielleicht hörst du mich in der Anderwelt, dann wisse, dass wir uns ein für allemal gerächt haben. Die, denen du Unrecht zugefügt hast, können nun endgültig …«
Das Gesicht des Mannes war nicht zu erkennen. Eadulf sprang vor, wollte ihn sich greifen, stolperte aber über eine Baumwurzel und stürzte zu Boden. Noch ehe er sich aufrappeln konnte, hörte er, wie Fidelma dem Fremden zurief, stehen zu bleiben. Als Eadulf sich aufgerichtet hatte, war die Gestalt schon verschwunden. Fidelma war ihr ein paar Schritte hinterhergerannt, musste es aber aufgeben und kehrte zu Eadulf zurück.
Er murmelte eine Entschuldigung wegen seiner Tolpatschigkeit. »Hast du gesehen, wer es war?«
»Nein«, bekannte sie verärgert. »Ich habe nicht einmal seine Stimme erkannt.« Gleich darauf erkundigte sie sich besorgt: »Hast du dir was getan?«
Er schüttelte den Kopf und merkte fast gleichzeitig, dass das in der Dunkelheit vergebliche Liebesmüh war. »Alles in Ordnung. Verzeih, eine Wurzel, bin hängengeblieben …«
»Ich weiß. Wir müssen uns was anderes einfallen lassen, um herauszubekommen, wer der Mörder war. Komm, lassuns zurückgehen, ehe der Mond sich ganz hinter den Wolken verkrochen hat. Wir haben keine Laterne.«
»Zumindest wissen wir, dass der Mörder ein Mann ist«, meinte Eadulf. Eine so törichte Feststellung hätte er sich eigentlich sparen können.
»Da haben wir ja eine beträchtliche Auswahl«, konterte Fidelma spöttisch, aber ohne jede Bitterkeit.
Von den Mauern der Abtei löste sich ein Schatten. Erschrocken hielten beide den Atem an, erkannten aber bald, dass es Gormán war.
»Alles in Ordnung, Lady?«, fragte er besorgt und leuchtete sie mit der Laterne an.
»Ja. Ist hier gerade jemand vorbeigelaufen?«
Zu ihrer Enttäuschung fiel die Antwort negativ aus.
»Keine Menschenseele; Bruder Echen hat eben die Tore zur Nacht verschlossen. Deshalb kam ich euch
Weitere Kostenlose Bücher