Der Blutkelch
…« – er legte eine Pause ein, suchte nach dem richtigen Wort – »… es war unser Geheimlager. Niemand wagte sich in die Nähe des Totenhügels. So nannten wir den Ort. Es war unser Geheimnis.«
»Und dann hat Donnchad dich vor seinem Tod gebeten, einige Dinge hierherzubringen, nicht wahr?«
»Woher weißt du das?«
»Er bat dich, sie herzubringen, weil er Angst hatte, man würde sie stehlen, wenn er sterben müsste. So war es doch, oder?«
Bruder Gáeth beschrieb mit der rechten Hand einen Bogen durch das Rauminnere.
»Donnchad gab mir die Dinge, um sie hier sicher zu verwahren.«
»Das ist einleuchtend. Du warst schließlich sein Freund.«
»War ich auch, egal, was sie sagen.«
»Du musst dir aus deren Gerede nichts machen«, beruhigte ihn Fidelma. »Du warst sein Freund, und deshalb vertraute er dir kurz vor seinem Tod auch etwas ganz Besonderes an, damit du es sicher verwahrst, stimmt’s?«
»Du weißt davon?« Er sah verängstigt aus.
»Ja«, bestätigte sie.
»Aber die anderen wissen nichts, oder? Die, die ihm Leid zugefügt haben.«
»Nein, sie wissen nichts davon. Doch jetzt müssen wir das, was er dir anvertraut hat, benutzen, damit sie für das, was sie ihm angetan haben, bestraft werden. Mein Ehrenwort, nur zu diesem Zweck.«
Er nickte bedächtig.
»Ich sollte eines Nachts zu ihm in die Zelle kommen, und da bat er mich, die Sache mitzunehmen und in Sicherheit zu bringen. Ich sollte sie niemals irgendwem geben.«
»Und du hast sie die ganze Zeit sicher behütet?«
»Ja, hier ist es sicher.«
»Jetzt ist Donnchad aber tot. Weißt du, was ein Brehon ist?«
»Wie sollte ich nicht!«
»Und du weißt auch, dass ich hier bin, um herauszufinden, wer Donnchad umgebracht hat? Mich hat der König, der große Macht über das Land hat, hergeschickt. Er möchte, dass die, die deinen Freund Donnchad getötet haben, entlarvt und bestraft werden.«
Bruder Gáeth überlegte. »Hat der König größere Macht als Bruder Lugna?«
»Ja.«
»Größere als der Abt?«
»Ja. Hast du verstanden, dass das, was Donnchad dir gegeben hat, helfen kann, den Täter zu überführen, der ihn ermordet hat?«
»Ich sollte es niemals jemandem geben«, beharrte er.
»Du willst doch aber nicht, dass sein Mörder entkommt und für seine Schurkentat nicht büßen muss?«
Wieder hatte sie ihn verunsichert.
»Ich sollte es niemals jemandem geben«, wiederholte er erneut, aber nicht mehr mit ganz so fester Stimme.
»Niemals, bis es gebraucht würde, um dafür zu sorgen, dass der arme Donnchad endgültige Ruhe findet und die, die ihn ermordet haben, für ihre Tat einstehen müssen.«
»Du meinst, Donnchad würde wollen, dass ich es dir zeige?« Er schwankte und brauchte Bestätigung.
»Ich bin der Meinung, ja.«
Nachdenklich blieb er eine Weile sitzen, ehe er sich auf einen Steinhaufen in einer Ecke zu bewegte. Systematisch begann er die Steine abzubauen, bis er ein kleines Loch in der Erde freigelegt hatte, aus dem er eine Schachtel nach oben beförderte. Er öffnete sie. Zum Vorschein kam eine Papyrusrolle.
Vorsichtig nahm Fidelma die Rolle heraus und glättete sie. Sie war mit regelmäßigen Schriftzügen in der Sprache ihres Volkes beschrieben. Die Überschrift lautete
Do Bhualadh in Brégoiri – Alles Lug und Trug
. Sie schluckte erregt und hielt die Lampe etwas höher.
» Ní rádat som acht bréic togáis
…«, begann sie laut zu lesen. »Sie lügen und betrügen …« Sie hielt inne, fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und las dann still für sich weiter.
Nach einer Weile hörte sie mit dem Lesen auf und lehnte sich zurück. Es war kein langes Schriftstück, aber sein Inhalt traf sie bis ins Mark. Sie rollte es wieder zusammen, legte es in die Schachtel zurück und reichte sie Bruder Gáeth. Er sah Fidelma verstört an.
»Was steht darin, Schwester?«, fragte er. »Ich kann es nicht lesen. Bei dem wenigen, was ich gelernt habe, ist es zu schwer für mich.«
»Der Text offenbart, wie bekümmert Bruder Donnchad war. Er war verwirrt und zugleich betroffen.«
»Kann es wirklich helfen, den Mörder aufzuspüren?«
»Ja. Hüte es weiterhin sorgsam, Bruder Gáeth. Schon in den nächsten Tagen werde ich dich bitten, mir die Schachtel mit der Papyrusrolle zu bringen. Das wird der Zeitpunkt sein, zu dem ich öffentlich darlegen werde, wer deinen Freund ermordet hat.«
»Und du wirst niemandem diesen Ort verraten, Schwester?«, fragte er besorgt.
Sie hatte sich bereits zum Eingang begeben und
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