Der Blutkelch
zu verlassen!«
»Vielleicht hat er eine Sondererlaubnis«, meinte Fidelma. »In jedem Fall befindet er sich noch im Gebiet der Déisi, also werde ich wegen einer so geringfügigen Übertretung des Gesetzes nicht Bericht erstatten.« Sie schaute zu dem Hügel hinauf, hinter dem Bruder Gáeth verschwunden war. Wahrscheinlich war es ein Grabhügel. Überall im Land gab es sie; in alter Zeit hatte man in solchen Grabhügeln die Vorfahren je nach Rang und Stellung zur letzten Ruhe gebettet.
Wie der Blitz durchfuhr sie ein Gedanke.
»Als was würdest du die Erhebung dort ansehen, Gormán?«
Er blinzelte nach oben. »Als einen Ort, an dem einer unserer Vorfahren bestattet wurde. Totenhügel, glaube ich, nennt man die.«
Ein zufriedenes Lächeln huschte über Fidelmas Gesicht.
»Das könnte für uns die Lösung sein.« Sie schwang sich vom Pferd. »Bleibt bei den Pferden und wartet hier. Wir wollen Bruder Gáeth nicht einschüchtern.« Eadulf und Gormán sahen sie verdutzt an.
»Du kannst unmöglich allein dort hoch gehen«, protestierte Eadulf.
»Und ob ich das kann«, gab sie zurück. »Du bleibst hier, und unterlass es ja, mir hinterherzukommen.«
»Es könnte aber gefährlich sein«, warnte Gormán. »Ich werde dich begleiten.«
»Ihr bleibt beide hier. Von Bruder Gáeth geht keine Gefahr aus.«
»Man kann nie wissen. Schließlich ist er …«, hub Gormán an.
»… kein Einfaltspinsel«, schnitt sie ihm das Wort ab, denn sie erriet, was ihm durch den Kopf ging. Sie begann die Anhöhe zu erklimmen. Als sie fast oben war, wurde deutlich, dass es sich trotz der Einbettung in die natürliche Landschaft um eine von Menschenhand geschaffene Anlage handelte. Man hatte große Steine zu einer Halbkugel angeordnet und mit Erdreich bedeckt. Langsam umwanderte sie das runde Gebilde und kam, wie erwartet, zu einem kleinen Eingang. Innen flackerte ein Licht. Sie bückte sich, um hineinzuspähen.
»Halt!«, scholl es ihr entgegen. »Dies ist eine Stätte der Toten.«
Gebeugt blieb sie in der Öffnung stehen.
»Und trotzdem bist du hierhergekommen, Bruder Gáeth. Was führt dich her?«
Er saß in der Mitte des kleinen Hohlraums. Es roch dumpf und erinnerte Fidelma an Friedhof. Auf einem schmalen Sims brannte eine Öllampe, auf einem anderen stand ein prächtigpoliertes Kruzifix. Es war aufwendig gearbeitet, glänzte und reflektierte den Lichtschein der Lampe. Ringsum an den Wänden stapelten sich Kästen und allerlei Gegenstände, darunter auch zwei Urnen aus gebranntem Lehm.
»Es ist der Ort meiner Toten«, erwiderte Bruder Gáeth leise. »Sie sind hier, hier kann ihnen nichts Böses geschehen.«
»Und dir soll hier auch nichts Böses geschehen, Gáeth, nichts liegt mir ferner als das. Darf ich eintreten?«
Er sah sie unschlüssig an, rang um eine Entscheidung und willigte schließlich ein.
»Du bist freundlich zu mir gewesen, Schwester. Gut, komm herein.«
Sie kroch hinein und setzte sich neben die Kisten. Das Rauminnere maß nicht mehr als fünfzehn oder zwanzig Fuß im Durchmesser. Der modrige Geruch reizte zum Husten. Ihr Blick ging zu dem verzierten Kruzifix. Es war aus Silber gefertigt und mit Halbedelsteinen geschmückt. Von ihren Reisen her kannte sie ähnliches Kunsthandwerk.
»Das hat wohl Bruder Donnchad aus dem Heiligen Land mitgebracht?«, fragte sie behutsam und deutete mit dem Kopf auf das kostbare Stück.
»Es war sein Geschenk für mich.« Es klang wie eine Verteidigung.
»Wie schön.« Nachdenklich betrachtete sie die Urnen, und Bruder Gáeth bemerkte es.
»Mein Vater und meine Mutter. Ich … Donnchad und ich haben ihre Asche gerettet und hierhergebracht. Das hier ist der Grabhügel von einem Herrscher aus früheren Zeiten. Meine Eltern haben es verdient, hier zu ruhen statt in Armengräbern. Mein Vater war Selbach von Dún Guairne, Gebietsherr der Uí Liatháin.«
»Ich weiß«, erwiderte Fidelma leise. »Doch Einäscherung wird von den Kirchen Irlands nicht gutgeheißen, und ich dachte, die Sitte gibt es nicht mehr.«
»Eochaid sagte, es spiele keine Rolle, weil meine Eltern
daer-fudir
waren und es ohnehin keinen Ort gab, wo man ein Denkmal für sie hätte errichten können. Und so ruhen sie nun hier.« Zärtlich berührte Bruder Gáeth eine der Urnen. »Die, die ich geliebt habe, ruhen hier. Donnchad hat geholfen, sie herzuschaffen, gleich, nachdem sie gestorben waren. Da war ich noch ein kleiner Junge.«
»Donnchad kannte also den Ort hier?«
»Wir haben hier oft gespielt. Es war
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