Der Blutkelch
schaute mit einem ermutigenden Lächeln zu ihm zurück.
»Hab keine Angst. Deine Gedenkstätte für die Toten wird niemand betreten.«
Langsam wanderte sie hügelabwärts und traf unten auf Eadulf und Gormán, die voller Unruhe auf sie warteten.
»Nun? Was hat sich da oben getan?«, forschte Eadulf. »Bist du unversehrt?«
»Was sollte denn passiert sein?«, gab sie gleichmütig zurück.»
»Na gut. Aber was hat es dir gebracht?«
»Das fehlende Mosaiksteinchen.«
»Du weißt, wer Bruder Donnchad ermordet hat?«, fragte Gormán.
»Fast wäre mir lieber, ich wüsste es nicht«, eröffnete sie ihm bitter. »Ich war mir schon vorher ziemlich sicher, konnte aber das Tatmotiv nicht begreifen, das einen Menschen zu solch einem Verbrechen hat treiben können. Wie auch immer, ich muss seine Beweiskraft ins Feld führen, und das dürfte der schwierigste Teil bei der überzeugenden Klärung des Falls sein. Ich muss dich bitten, sofort nach Cashel zu reiten, Gormán, und zwar mit Anweisungen für meinen Bruder.«
» Anweisungen
? Für den König?« Der Krieger war fassungslos.
»Es wird in deiner Verantwortung liegen, Colgú, meinen Bruder, zu veranlassen, meine Anweisungen getreulich zu befolgen, andernfalls setzen wir uns einer großen Gefahr aus, einer Gefahr, die zur ernsthaften Bedrohung für das Königreich werden könnte.«
»Eine Bedrohung …?«, stammelte Gormán.
»Gormán, ich hatte nicht erwartet, dich wie einen gestrandeten Lachs vor mir zu sehen, der hilflos nach Luft schnappt«, fuhr sie ihn gereizt an. »Wenn du nach Cashel reitest, achte darauf, dass du einen abseitsliegenden Weg einschlägst, niemand darf mitbekommen, dass du fortgeritten bist und schon gar nicht, wohin.«
»Natürlich, Lady.«
»Gut. Ich werde dir jetzt sagen, was du meinem Bruder mitzuteilen hast.« Sie sprach rasch und ohne Umschweife, während Gormán als Zeichen, dass er sie verstanden hatte, schweigend nickte. Er schwang sich auf sein Pferd, und sie schaute lächelnd zu ihm auf. »Ich erwarte dich also in drei Tagen in der Abtei.«
Gormán hob die Hand zum Gruß und galoppierte Richtung Norden davon. Voller Genugtuung sah sie ihm nach.
»Du erzählst mir doch hoffentlich, welche Anweisungen du ihm mitgegeben hast?«, meinte Eadulf mürrisch.
»Selbstverständlich mache ich das. Wir werden ein paar Tage alle Hände voll zu tun haben, um die Gerichtssitzung vorzubereiten, bis mein Bruder eintrifft. Vortragen muss ich die Sache allein, Eadulf, denn nur einer ausgebildeten
dálaigh
ist das gestattet. Du aber musst mir unbedingt zur Seite stehen, um mich in den entscheidenden Momenten mit den notwendigen Beweisen zu unterstützen. Wir haben einen äußerst schwierigen Fall vor uns, und ich fürchte, man wird sich an keinem Präzedenzfall ausrichten können.«
Eadulf war bekannt, dass es bei der Rechtsprechung für den Brehon und jeden anderen Richter von Wichtigkeit war, vergleichbare Fälle heranziehen zu können, ehe er sein Urteil fällte.
»Ich werde mein Bestes tun«, versprach er.
Fidelma sah müde aus. »Wir müssen gut vorbereitet sein, Eadulf. Ich hätte nie gedacht, dass unmäßige Frömmigkeit so viel Böses gebären kann.«
KAPITEL 20
Drei Tage, nachdem Gormán nach Cashel aufgebrochen war, kehrte er spätabends zurück und berichtete Fidelma, dass alles wunschgemäß in die Wege geleitet worden sei. Daraufhin ließ sie Abt Iarnla und Bruder Lugna unverzüglich wissen, dass sie am folgenden Tag zur Mittagszeit im
refectorium
ihren abschließenden Untersuchungsbericht vorlegen würde. Auch Lady Eithne, Uallachán und Cumscrad wurden benachrichtigt, damit sie an der Gerichtsverhandlung teilnehmen konnten.
Fidelma und Eadulf waren früh aufgestanden und überquerten den Innenhof. Der Morgen zeigte sich friedlich, das erste Sonnenlicht versprach erneut einen warmen Tag. Das Vogelgezwitscher aber wurde von dem Gesang, der aus der Kapelle herüberklang, übertönt. Die Brüder hatten zu ihrer Morgenandacht Colmcilles bekannte Hymne
Altus Prosator
angestimmt und sangen sie mit Inbrunst.
Regis regum rectissimi
Prope est dies Domini:
Dies irae et vindicatae Tenebrarum et nebulae …
Tag des rechtmäßigen Königs,
Nah ist der Tag unseres Herrn,
Tag des Zorns und der Rache.
Die Schlacht ist nicht mehr fern.
Eadulf sah Fidelma an und musste schmunzeln. »Könnte passender nicht sein.«
Fidelma war stehen geblieben und lauschte mit leicht geneigtem Kopf. Von jenseits der Tore drang Pferdegetrappel an ihr
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