Der Blutkelch
hier zu Gericht sitzen. Die Verfahrensordnung ist einzuhalten.«
»Mit deiner Zustimmung werde ich dem Verwalter antworten«, erklärte Fidelma versöhnlich. »Es handelte sich um einen Racheakt, um eine Blutrache.«
Sie wartete, bis es in der Halle wieder ruhig geworden war, und sprach dann weiter, am Anfang noch etwas zögernd, dann aber in zunehmendem Maße flüssiger.
»In jedem Rechtssystem gilt die Ermordung eines Menschen als das größte Verbrechen, das jemand begehen kann.Hinsichtlich der Art der Strafe aber habe ich in den vielen Ländern, die ich bereist habe, unterschiedliche Gesetzesvorschriften kennengelernt.«
Schon sprang Bruder Lugna ein weiteres Mal auf.
»In Rom ist die Todesstrafe die einzige Strafe, die für ein solches Verbrechen in Frage kommt, und das ist auch richtig so. Bei den meisten Gläubigen jenseits der Meere findet ein solches Verfahren Zustimmung, denn es ist gerecht, und für Gerechtigkeit tritt das Christentum ein. Heißt es nicht in den überlieferten Texten: Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn? Selbst wenn es reine Nachlässigkeit ist, die zum Tode führt, ist Tod die einzig mögliche Vergeltung.«
Brehon Aillín hatte schon verärgert zu seinem Amtsstab gegriffen, aber Fidelma gab ihm keine Gelegenheit, den Verwalter zur Ordnung zu rufen, und hob rasch die Hand.
»Deine Erlaubnis vorausgesetzt, möchte ich die Erwiderung darauf übernehmen. Wir sollten Bruder Lugna zugestehen, dass er bei seinem langen Aufenthalt in Rom vergessen hat, wie unsere Gerichte verfahren. Wir halten die von ihm dargelegte Auffassung für nicht vereinbar mit dem Glauben, schließlich hat Christus uns unterwiesen, die von Bruder Lugna zitierte Textstelle nicht zu beachten. Würdest du zulassen, Brehon Aillín, dass Bruder Eadulf, der ebenfalls in Rom studiert hat, uns daran erinnert, was Christus gesagt hat?«
Der Brehon, selbst neugierig geworden, nickte, und Eadulf stand auf. »Im Evangelium des Matthäus steht geschrieben –
audistis quia dictum est: ›Oculum pro oculo et dentem pro dente‹ …ego autem dico vobis: non resistere malo; sed si quis te percusserit in dextera maxilla tua, praebe illi et alteram
.
«
»Ihr habt gehört, dass da gesagt ist: Auge um Auge, Zahnum Zahn. Ich aber sage euch …« Lächelnd hielt sie in der Übersetzung inne. »Ich bin sicher, Bruder Lugna kennt die Stelle genauso gut wie wir alle. Ich freue mich, dass wir über aufgeklärtere Gesetze verfügen, auch wenn es einige gibt, die es lieber sähen, wir hätten es mit den Bußvorschriften von Rom zu tun, nach denen die Hand, die stiehlt, abzuschlagen ist, das begehrende Auge zu blenden ist und nach denen der Angeklagte, der unmittelbar oder mittelbar für den Tod eines anderen verantwortlich ist, mit dem eigenen Tod büßen muss.«
Bruder Lugna war die Empörung ins Gesicht geschrieben. Er suchte den Blick von Lady Eithne und fand sich in deren grimmiger Miene bestätigt.
Gelassen fuhr Fidelma fort: »Nach unseren Gesetzen wird jemandem, der sich vergangen hat, die Möglichkeit gegeben, seine Missetat zu sühnen, selbst wenn die zum Tod eines Mitmenschen geführt hat. Darüber hinaus verlangt unsere Gesetzgebung, dass dem Opfer beziehungsweise den Angehörigen des Opfers eine Wiedergutmachung zusteht. Was nützt den Angehörigen des Opfers die Genugtuung, dass der Täter mit dem Leben büßen musste, wenn sie selbst allein zurückbleiben, die Frau ohne ihren Mann, das Kind ohne Mutter oder Vater weiterleben muss? Rache bringt nur eine momentane Genugtuung. Einzig unter extremen Umständen, wenn sich der Mörder als unbelehrbar erweist, keine Reue zeigt und nicht gewillt ist, eine Wiedergutmachung und die im Gesetz festgelegten Strafgebühren zu zahlen, sagen wir, das Schicksal soll entscheiden, was aus ihm wird. Ein solchermaßen Unverbesserlicher wird in einem Boot ohne Segel und Ruder auf offenem Wasser ausgesetzt, versehen mit Essen und Trinken für einen Tag. Alles Weitere bleibt dem Wind und den Wellen überlassen.
Vielleicht kennt der eine oder andere unter euch die Geschichte von MacCuill, dem Sohn der Haselnuss, einem Dieb und Mörder, der im Königreich Ulaidh sein Unwesen trieb. Seine Verbrechen waren ungeheuerlich, auch bereute er sie nicht, und so überantwortete man ihn an der Küste von Ulaidh in einem Boot der offenen See. Er trieb eine Zeitlang auf dem Wasser und wurde schließlich an das Ufer einer Insel gespült, die nach dem Gott der Meere benannt ist, Mannanán Mac Lir. Zu der
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