Der Blutkelch
Abt Iarnla. »Auch ihm gelang es nicht, das Schloss zu öffnen; er musste die Tür aufbrechen. Hätte er einen weiteren Schlüssel gehabt, wäre er ihn holen gegangen, um nicht die Tür aufbrechen zu müssen.«
Die Erklärung erschien glaubhaft, befriedigte aber Fidelma nicht gänzlich.
»Ihr sagt, ihr hättet Bruder Donnchad ein Schloss an die Tür bauen lassen, damit er seinen Willen hatte. Ist das in diesem Zusammenhang nicht eine etwas merkwürdige Formulierung?«
Abt Iarnla und Bruder Donnchad sahen sich verlegen an.
»Bruder Donnchad war …«, fing der Abt an.
»Er legte ein merkwürdiges Verhalten an den Tag«, fiel ihm Bruder Lugna ins Wort.
»In welcher Hinsicht? Wie zeigte sich das?«, fragte Eadulf.
»Er begann sich zurückzuziehen, wollte auch mit seinem ältesten Freund in der Gemeinschaft nichts mehr zu tun haben.«
»Selbst der Messe blieb er fern«, ergänzte Bruder Lugna. »Als es so weit ging, dass er ein völliges Einsiedlerleben führte und mit niemandem mehr sprechen wollte, bat ichLady Eithne her, seine Mutter, in der Hoffnung, sie würde herausfinden können, was ihn bedrängte.«
»Ist es ihr gelungen?«
Er kam nicht dazu, ihr zu antworten, denn von draußen auf dem Innenhof hörte man Pferdegetrappel. Bruder Lugna murmelte eine Entschuldigung, stand auf, ging zum Fenster und schaute hinaus. Dann drehte er sich wieder um und sagte: »Am besten, du fragst Lady Eithne selbst, Fidelma, sie ist soeben mit einer Eskorte eingetroffen.« Er verließ den Raum, um die Gäste zu begrüßen.
Lady Eithne war eine imposante Erscheinung. Groß, wie Fidelma selbst, musste sie dennoch zu ihr aufschauen, obwohl sie auf gleicher Höhe standen. In den Gesichtszügen der Frau zeigten sich immer noch Spuren einer jugendlichen Schönheit. Eine gewisse Strenge war nicht zu verkennen. Die wachen blauen Augen ließen ihr Alter kaum erahnen, nur ihr sonstiges Äußeres deutete bei näherem Hinsehen darauf hin, denn Augenbrauen und Haar hatte sie mit Beerensaft gefärbt. Sie musste eine ausgesprochen erfahrene und geschickte Kammerfrau haben, die sie frisierte. Das Haar war in drei dunkelbraunen Flechten um den Kopf gelegt, die von goldenen Reifspangen, sogenannten
flesc
, gehalten wurden, während ein vierter geflochtener Zopf von der Mitte des Nackens locker auf den Rücken herabfiel. Ein auf dem Kopf drapiertes Tüchlein zeigte, dass sie Witwe war. Dass man eine etwas ältere Frau vor sich hatte, machten auch die Falten am Hals deutlich. Der einzige Schmuck, den sie trug, war ein goldenes Kreuz, besetzt mit Halbedelsteinen. Es stammte ganz offensichtlich aus einem fremden Land; Fidelma hatte eine solche Arbeit noch nie gesehen.
Lady Eithne stand gelassen da; angetan war sie mit einem hellgrünen Kleid aus Seide,
siriac
, darüber ein hellblauerÜberwurf aus Satin,
sróll
, mit Dachsfell besetzt. Sie trat einen Schritt nach vorn und hielt Fidelma zur Begrüßung die ausgestreckten Hände entgegen.
»Willkommen, Lady. Seit ich hörte, man hätte dich gebeten, in die Abtei zu kommen, habe ich deine Ankunft herbeigesehnt.«
»Lady Eithne«, erwiderte Fidelma und senkte den Kopf. Ihre Verbeugung galt dem Alter und dem Ansehen der Frau, nicht ihrem Rang. Als
banchomarbae
, als Erbin, und auch als Witwe des Stammesfürsten der Déisi, war sie die Oberherrin des Abteibezirks.
»Und dort habe ich Eadulf von Seaxmund’s Ham vor mir?« Lady Eithne schenkte ihm ein gönnerhaftes Lächeln. »Ich habe viel von dir gehört. Ich heiße euch beide im Gebiet der Déisi willkommen.« Den Abt bedachte sie lediglich mit einem mürrischen Kopfnicken. Ihm schien ihr Eintreffen unangenehm, doch hatte er seinen Sessel geräumt und forderte sie auf, dort Platz zu nehmen. Diese Geste verwunderte Eadulf, denn es geschah nicht oft, dass ein Abt gegenüber dem örtlichen Adel auf seine Würde verzichtete. Bruder Lugna hatte für einen weiteren Stuhl gesorgt, und so setzte sich der Abt neben Lady Eithne.
»Dein Besuch kommt unerwartet, Lady«, sagte der Abt, während der Verwalter dem Gast Met einschenkte.
»Für dich vielleicht, für mich ist er eine Selbstverständlichkeit«, erwiderte Lady Eithne. »Sowie ich erfuhr, dass Fidelma von Cashel hier ist, bin ich hergeritten, um sie zu begrüßen. Mir liegt die Klärung der Vorkommnisse genauso am Herzen wie der Abtei, wenn nicht sogar mehr.«
Ihre Worte waren ein deutlicher Vorwurf und ein Erinnern daran, dass es sich bei dem Ermordeten um ihren Sohn und nicht nur um einen
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