Der Blutkelch
irgendwie zu erklären. Erst vor ein paar Tagen hat er sich einen ganzen Tag lang von der Abtei entfernt, ohne anzugeben, wo er sich aufgehalten hat. Auch hat er seit gestern nichts mehr gegessen, und seine Zellentür hält er fest verschlossen, obwohl das gegen den bei uns geltenden Brauch verstößt.«
»Auf deine Bitte hin hat Lady Eithne ihn doch aber zweimal in seinem verstörten Zustand aufgesucht.«
»Ja. Ich hatte sie darum gebeten. Ich meinte, es gehört zu den Aufgaben meines Amts, ihr das nahezulegen.«
»Was hat ihr Besuch bei ihm erbracht?«
»Gestern Abend war Lady Eithne eine kurze Zeit allein mit Bruder Donnchad. Ich begegnete ihr an der Pforte. Sie war äußerst erregt. Man sah ihr an, dass sie sich bei der Begegnung mit ihm der Tränen nicht hatte enthalten können. Für mich steht fest, wir müssen etwas unternehmen. Die in der Abtei geltenden Regeln müssen eingehalten werden. Viele unserer Brüder sind wegen Bruder Donnchad beunruhigt und wissen nicht recht, wie sie sich verhalten sollen. Anarchie greift um sich. Ich benötige deine Autorität, um Zucht und Ordnung aufrechtzuerhalten.«
Abt Iarnla nickte. »Und doch geht es in erster Linie um Bruder Donnchad. Er ist nicht nur ein weithin anerkannter Gelehrter, für die jüngeren Brüder ist er ein Held, anderen ist er ein Vorbild …«
»Und das alles wegen seiner glücklich überstandenen Pilgerfahrt ins Heilige Land«, brachte es der Verwalter auf den Punkt. »Gerade wegen seines Ansehens wirkt sich sein Benehmen so verderblich auf die Abtei aus. Es darf so nicht weitergehen.«
Der Abt richtete sich auf und kam zu einem Entschluss. »Ich stimme dir zu, Bruder Lugna. Es ist meine Schuld, ich habe Bruder Donnchads Verhalten mit zu großer Toleranz geduldet. Dass ich so lange gezögert habe, kann ich nur mit meinem Respekt vor seinen Leistungen entschuldigen. Ich werde mit ihm sprechen und von ihm verlangen, sich den in unserem Gemeinwesen herrschenden Regeln anzubequemen.«
Unvermittelt erhob sich Abt Iarnla von seinem Sitz, und überrascht tat Bruder Lugna es ihm gleich. Es wurde kein weiteres Wort gewechselt, während sie den Raum verließen. Draußen begegneten sie Bruder Gáeth, der, hochrot im Gesicht, sich mit einem Armvoll trockener Scheite für die Abtstubeabmühte. Er drückte sich an die Wand, um sie vorbeizulassen, doch sie würdigten ihn keines Blickes.
Sie gingen über den mit Steinplatten ausgelegten Innenhof, in dessen Mitte man einen Springbrunnen über einer natürlichen Quelle angelegt hatte, und wandten sich einem neuen dreistöckigen Steingebäude zu. Es befand sich am Rande der Abtei-Umfriedung. Zwei seiner grauen Mauern bildeten sogar einen Eckpunkt des Klostergeländes. Unmittelbar dahinter fiel das Land steil ab zu den düsteren Wassern des An Abhainn Mór, des Großen Flusses, der auch die Nordgrenze der Besitzungen der Abtei Lios Mór bildete. Das Gebäude hob sich von den übrigen Bauten ab, die bis auf die Kapelle alle aus Holz errichtet waren. Doch sah man in der Abtei Anzeichen reger Bautätigkeit; man war dabei, die älteren Holzbauten durch Steinhäuser zu ersetzen.
Für einen ältlichen und beleibten Geistlichen bewegte sich Abt Iarnla recht behende. Ohne auch nur einmal nach Luft zu ringen, betrat er das Gebäude und stieg die Treppen hinauf, die in die oberen Stockwerke führten. Bruder Lugna eilte ihm hinterher. Am anderen Ende des Korridors im Obergeschoss befand sich eine Tür zu dem
cubiculum
, dem Schlafraum, den Bruder Donnchad bewohnte. Abt Iarnla blieb davor stehen, klopfte aber nicht an, wie man es erwartet hätte. Er griff zur Klinke und drückte sie nieder, doch die Tür öffnete sich nicht. Sie war verschlossen.
Gereizt trat der Abt einen Schritt zurück und hob die Faust; dreimal schlug er heftig gegen die dunkle Türfüllung.
»Öffne, Bruder Donnchad! Ich bin es, Abt Iarnla.«
Er wartete einige Augenblicke, doch drinnen regte sich niemand.
Hinter ihm hüstelte Bruder Lugna nervös. »Wie ich dir gesagt habe, dieses ungehörige Benehmen legt er permanentan den Tag. Er antwortet einfach nicht auf unsere inständigen Bitten, uns zu öffnen.«
Der Abt schnaubte erbost, hob erneut die Faust und hämmerte gegen die Tür. Dann hielt er inne und rief laut: »Dein Abt steht draußen, Bruder Donnchad. Er gebietet dir, ihm deine Tür zu öffnen.«
Wiederum blieb eine Antwort aus. Der Abt schaute grimmig drein, und hellrote Flecken auf seinen Wangen deuteten an, dass er sich verhöhnt
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