Der Blutkönig: Roman (German Edition)
sah, wie sich der alte Mann der Stimme zuwandte, seine Schultern straffte und die Schwelle überschritt. Als Tris die Augen öffnete, sah er, wie Kelse mit großen Augen die Stelle anstarrte, an der die Erscheinung gestanden hatte.
»Ich danke Euch, Euer Hoheit.« Kelse ging rückwärts, immer noch respektvoll in eine Verbeugung versunken, bis einer der Lakaien ihn zur Tür führte.
Carroway und Royster tauchten zur Mittagszeit auf und brachten ein Tablett mit Käse und Fleisch für Tris und Krüge mit warmem Bier. Die zwei setzten sich auf Stühle weiter hinten im Raum und Royster zog einen ledernen Band aus den Falten seiner schweren Gewänder hervor.
»Was bringt euch hierher?« Tris war für die kurze Ablenkung dankbar.
Carroway grinste. »Als wir hörten, was hier los ist, wollten wir das nicht verpassen.«
»Wie ich schon erzählt habe, hatte deine Großmutter keine Chronisten«, sagte Royster. »Wir beabsichtigen, das zu ändern. Ich habe bereits mit deiner Geschichte angefangen. Ich nenne sie die Chroniken des Nekromanten. Ein ziemlicher Ohrwurm, nicht wahr?«
»Ja, und weil Musik schneller reist als der Wind, dachte ich, dass ich hier die Inspiration für ein paar Tavernenlieder bekomme, die Art Gesänge, bei der die Damen in Tränen ausbrechen und starke Männer zu den Waffen greifen.« Carroway lächelte verschwörerisch. »Sänger sind die besten Spione.«
Tris lachte leise. Carroway schien immer zu wissen, was im Königreich stattfand. Jared betrachtete fahrende Sänger mit Misstrauen, er versuchte die, die er für bedrohlich hielt, zum Schweigen zu bringen oder einzusperren. Weil die meisten Bauern und viele der Dorfbewohner weder lesen noch schreiben konnten, waren Lieder, Balladen und Geschichten die verlässlichste Art, Nachrichten zu verbreiten. Sogar in Angelegenheiten des Glaubens verließen sich die Diener der Lady auf Bilder und Symbole, um die Grundlagen der Religion zu verbreiten. Könige, die Schwesternschaft und auch die Tempelpriesterinnen hatten ihre Bibliotheken, aber die meisten Leute kümmerten sich nur insoweit um die Geschichte, dass sie einen gewissen patriotischen Sinn entwickeln konnten oder um eine Entschuldigung zu haben, um ihre Feinde zu hassen. Den Glauben brauchten sie, um sich mit ihrem Aberglauben vor Monstern und Dämonen zu schützen, ob sie nun real waren oder nicht.
»Ich bin offen für jede Hilfe, die wir bekommen können.« Tris dachte an all die Geister, die er an diesem Tag gesehen hatte. »Aber wenn ihr bleiben wollt, dann seht euch vor. Die Geschichten sind nicht immer einfach zu hören.«
Der nächste Bittsteller war eine große, hagere Frau, die nach Fisch roch. Auch wenn sie erst in ihren Dreißigern war, war ihr Gesicht gezeichnet von Sorge und ihre Augen sahen abgehärmt aus.
»Zu Ihren Diensten, M’Lord.« Die Frau machte einen verlegenen Knicks.
»Wie lautet Euer Wunsch?«, fragte Tris.
»Vor einem Jahr starb mein einziger Sohn«, sagte sie. »Wir stritten um eine Kleinigkeit, aber der Zank wurde heftiger und mein Temperament ging mit mir durch. In seiner Verzweiflung erhängte er sich.« Tränen traten in ihre Augen. »Ich würde all meinen Besitz hergeben, um ihn wieder bei mir zu haben.«
»Diese Macht ist mir nicht gegeben.«
»Das weiß ich. Aber wenn Ihr ihn rufen könnt, mein Herr, bitte – ich möchte ihn um Vergebung bitten und ihm sagen, dass ich ihn liebe.«
»Wie ist der Name des Jungen?«
»Tabar. Sein Name war Tabar.«
Tris holte tief Luft und glitt hinüber in die Ebenen der Geister. Er rief nach der Seele des Sohns der Frau, bis er eine Antwort bekam. Ein junger Mann tauchte auf, er trug eine rote Narbe, wie von einer Schlinge. Tris verwandte noch etwas mehr Magie und der Geist wurde sichtbar. Für einen Moment glaubte er, die Frau würde ihn Ohnmacht fallen. Sie griff an ihr Herz und fiel auf die Knie.
»Vergib mir!«, weinte sie und warf sich selbst zu Füßen des Geistes. »Tabar, ich wollte nie, dass unser Streit so weit geht. Ich wollte, du hättest mir ein Messer ins Herz gestoßen, statt so zu gehen!«
Der Geist des jungen Mannes trat auf sie zu, kniete ebenfalls nieder und nahm sie in seine substanzlosen Arme. »Ich war dumm und wütend«, meinte er. »Ich wollte nicht sterben, ich wollte, dass du dir Sorgen machst und zugibst, dass ich recht habe. Als mein Atem mich verließ und du meinen Körper fandest, sah ich deinen Schmerz. Ich war jeden Tag bei dir, auch wenn du mich nicht sehen konntest. Ich habe einen
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