Der Blutkristall
Ziegelwand. Links davon der Kamin, der in seinem britisch anmutenden Design sehr fremd wirkte. Der Umrandung aus Marmor, einst mit all den Girlanden und Figuren sicher sehr teuer gewesen, fehlte eine Ecke und rußig war sie auch. Niemand hatte die Asche entfernt. Wahrscheinlich qualmt das Ding und ist nur Dekoration . Eine alte Decke auf dem verschlissenen Sofa sollte Behaglichkeit vermitteln, am Boden lag vergessen eine leere Flasche. Rot bezogen war dieses Kanapee aus der Gründerzeit, dessen beste Tage noch länger vorüber waren als die des abgenutzten Ledersessels an dessen Seite ... vom fadenscheinigen Teppich ganz zu schweigen. Vor der Fensterwand Löwenfüße, auf denen eine Badewanne thronte. Eine gewisse Logik war in der Art zu erkennen, wie die Möbel angeordnet waren. Sie bildeten eine Insel in dem viel zu großen Raum. Für Vivianne aber waren sie nicht mehr als eine Ansammlung antiken Schrotts, sah man von dem flachen Bildschirm einmal ab, der neben dem Regal schwarz glänzend an der Wand hing. Mitten in der Halle – die Holzleiter führte geradewegs in den Himmel. Kein Bett, kein Stuhl, kein Tisch. Doch. Dort war noch etwas. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Ganz hinten stand ein großer Holztisch, bedeckt mit Papieren, unter denen ein flaches Notebook vergraben war. Drei Stühle. Daneben kaum sichtbar Türen. Das war alles. Diese Behausung konnte sich offenbar nicht entscheiden, ob sie verwahrlost oder trendgerecht daherkommen wollte. Der monströse Kristallleuchter, der an einer rostigen Kette hängend im Nichts über ihnen befestigt zu sein schien, gestattete auch dem sorgfältigen Betrachter keinerlei eindeutige Einordnung.
«Wohnt hier jemand?» Vivianne konnte den ungläubigen Unterton nicht aus ihrer Stimme verbannen.
Angemessen geriet seine Antwort: «Ich.» Morgan öffnete ein Fenster, dann sah er sie prüfend an. «Du siehst nicht gut aus.»
Genau die Art Komplimente, mit deren Hilfe man jedes Frauenherz eroberte. «Wundert dich das? Die Sonne geht gleich auf.» Tatsächlich war es der Hunger, der ihr zu schaffen machte. Aber sie würde nicht um Blut bitten. Nicht ihn. Vivianne empfand diese vertraute Schwere heute besonders stark, die sie vor jedem aufziehenden Morgen erfasste, als seien ihre Knochen plötzlich mit Blei ausgegossen. Je weiter sie sich von Paris entfernt hatten, desto elender wurde ihr zumute. Sie war zu müde zum Streiten und hoffte, den Tag nicht in irgendeinem Schrank verbringen zu müssen. Manche Vampire schliefen sogar im Sarg. Vivianne grauste es bei dieser Vorstellung fast noch mehr als vor den Ratten, die zweifellos den Keller bewohnten, in dem der missmutige Vampir vermutlich den größten Teil seines Daseins verbrachte.
«Es gibt ein Schlafzimmer.» Als hätte er ihre Befürchtungen gehört.
«Und wo bleibst du?» Vivianne verstand nicht, warum er die Augen verdrehte.
«Keine Sorge, Prinzessin, du bekommst dein eigenes Bett.» Er zeigte im Vorübergehen auf die Wanne. «Dies ist ...» Vivianne unterbrach ihn: «Eine Badewanne?»
Jetzt zuckte es in seinem Mundwinkel: «... das Bad.»
«Das ist alles?» Ihr blieb der Mund offen stehen, und als er eine der Türen, deren Lage sie zuvor nur erahnt hatte, öffnete, hoffte sie, er habe nur gescherzt.
«Bitte schön.» Morgan stellte ihre Tasche neben ein schlichtes Bett, knipste die einzige Lampe an, und als sich Vivianne umdrehte, fiel die Tür bereits ins Schloss. «Schließ ab, dann bist du sicher.» Seine Stimme klang dumpf. Sterbliche würden dank des Schutzzaubers, den sie vorhin gespürt hatte, sicher nicht eindringen, und Morgan schien sich herzlich wenig für sie zu interessieren. Trotzdem drehte Vivianne den Schlüssel zweimal herum. Sie probierte die zweite Tür, aber sie war verschlossen, und so benetzte sie ihr Gesicht mit dem Wasser, das sie in einem Krug fand, und spülte ihren Mund aus, danach spuckte sie die eisige Flüssigkeit in eine altmodische Waschschüssel. Offenbar hatte er es ernst gemeint. Außer einer Badewanne mitten im Wohnzimmer, wenn man die heruntergekommene Fabrikhalle denn so nennen wollte, gab es in dieser Absteige keinerlei ernst zu nehmende Möglichkeit zur täglichen Körperpflege. Gleich morgen würde sie sich ein Hotelzimmer suchen. Es gab in fast jeder Stadt eines dieser Häuser, die einen speziellen Service für die Geschöpfe der Dunkelheit anboten. Sie brauchte nur Asher anzurufen ... Verdammt! Ihr Bruder würde sofort misstrauisch werden und
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