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Der Blutkristall

Titel: Der Blutkristall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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ihr Körper dem Sonnenlicht ausgesetzt wäre.
    Es gab zwar eine Fluchtmöglichkeit, die Zwischenwelt, eine Dimension, in der Vampire schnelle Ortswechsel vornehmen oder sogar ganze Ozeane überqueren konnten, doch dort hinein wagte sie sich jedoch noch nicht. Und aus Morgans selbstverständlichem Umgang mit der modernen Technik schloss sie, dass auch er lieber in ein fliegendes Stahlungetüm stieg, als sich den Gefahren einer anderen Dimension auszusetzen. Diese Welt der Schatten und Illusionen war voller Tücke, unerfahrene Reisende konnten darin rasch für immer verloren gehen. Sie blickte ihn prüfend an, aber natürlich konnte man einem Vampir nicht an der Nasenspitze ansehen, ob er Zugang zur Zwischenwelt hatte oder nicht. Morgan, das begann sie allmählich zu begreifen, würde selbst ein weitaus versierterer Beobachter nicht ohne Weiteres entlocken können, wer oder was er war. Vivianne wurde bewusst, dass er seinerseits jede ihrer Bewegungen genau registrierte, obwohl er seine Augen wieder geschlossen hielt. Das Gespräch war eindeutig beendet, also blickte sie weiter in die nächtliche Landschaft, die an ihrem Fenster vorbeizog. Bäume glitten vorüber, schwach beleuchtete Straßen, keine Vorstädte, wie man sie von Paris kannte, sondern kleine Häuser, viele mit Gärten, die zu dieser Jahreszeit kalt und ungemütlich wirkten.
    Die S-Bahn hielt alle paar Minuten, manchmal stiegen Menschen ein, müde, selbstvergessen, auf dem Weg zur Arbeit wahrscheinlich oder von dort nach Hause. Vivianne machte sich nicht die Mühe, ihre schläfrigen Gedanken zu ergründen. Morgan schwieg, und in den Scheiben sah sie das Bild von zwei völlig Fremden, die sich nichts zu sagen hatten. Wohin würde er sie bringen? Der Zug quietschte in den Kurven, Morgan berührte ihre Schulter. «Komm, wir müssen aussteigen!»
    Wieder hatte er sie überrascht. Dieses Mal war der Bahnsteig belebter. Nachtschwärmer, junge Leute in Gruppen, laut, manche betrunken, irgendjemand trug ein Radio bei sich, drei schwarzhaarige Jungs tanzten zum Rap in den Wagon hinein und lachten.
    «Zuuurücktreten!» Der Zug fuhr an und ließ sie auf einem leeren Bahnsteig zurück. Vivianne folgte Morgan die Treppenstufen hinab, sie kreuzten gemeinsam eine breite Allee, ein Auto hupte, Scheinwerfer blendeten sie. Sie liefen jetzt Seite an Seite, überquerten eine Brücke, unten im Fluss hell erleuchtet ein schwimmender Pool, Lachen wehte herüber, jemand sprang in blau glitzerndes Wasser. Hausboote schaukelten daneben in schwarzen Wellen. Vor ihnen saß ein Rabe im Lichtkegel einer Straßenlaterne. Nabrah? Der Vogel flog auf, keine Antwort. Sie fühlte sich wie in einem Traum. Eben noch in Paris und nun in einer völlig fremden Stadt, auf deren Pflaster sie noch niemals zuvor einen Fuß gesetzt hatte. Ausgeliefert.
    «Wir sind da.» Er stieß gegen ein eisernes Tor, das lautlos aufschwang, sie konnte das Öl an den Scharnieren noch so deutlich riechen, als sei es erst gestern daraufgeträufelt worden. Morgan führte sie in den Innenhof einer – ja, was mochte das sein? – Manufaktur, hätte man früher vielleicht gesagt. Die Magie, geeignet Sterbliche gleichermaßen zu verwirren und fernzuhalten, prickelte auf ihrer Haut. In einer Ecke stand ein mächtiger Ahorn, rundherum wuchsen Backsteinwände in den Himmel, mit großen Fensterflächen, wie sie Fabriken häufig besaßen, zusammengesetzt aus zahllosen Scheiben, manche zerbrochen, viele blind vom Staub der Jahrzehnte. Morgan ging voran, über schmale Betonstufen erreichten sie eine Rampe, er schob ein Holztor beiseite, ließ sie eintreten, folgte ihr lautlos und schloss das Tor sorgfältig hinter sich. «Die Treppe rauf!», wies er Vivianne an und gab sich keine Mühe, für Beleuchtung zu sorgen.
Die absolute Dunkelheit verunsicherte sie und so war seine raue, warme Hand eine willkommene Hilfe. Schlüssel klimperten, einer machte ein – selbst für das geschulte Ohr – kaum hörbares Geräusch, als er im Schloss umgedreht wurde. Dann ein zweites Schloss. Auch hinter dieser Tür gab es keinerlei künstliche Beleuchtung, doch der Nachthimmel warf das Licht der schlaflosen Stadt zurück und schimmerte wie trüber Mondschein durch ungezählte Scheiben. Ein riesiger Raum, grobe Holzdielen aus denen Säulen wuchsen, die in ihrer eisernen Eleganz längst vergangener Zeiten eigenartig verspielt wirkten. Auf den ersten Blick schien alles leer zu sein, dann entdeckte sie das schiefe Bücherregal an der unverputzten

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