Der Blutkristall
Wettersituation, zusammen mit den vorwitzigen Haaren, schwungvoll beiseite. Die Nacht war schwer vom Geruch des Kerosins und ein Buchstabe der schlichten Leuchtschrift «Schönefeld» flackerte unsicher. In der Ferne hörte sie die Geräusche einer Stadt, die niemals richtig schlief. Wir sind in Berlin. Sie holte Morgan ein und hielt ihn am Ärmel fest. «Wohin jetzt?»
Er verlangsamte seine Schritte nicht und antwortete über die Schulter: «Beeil dich!»
Ihr blieb nichts anderes übrig, als weiter hinter ihm herzulaufen, durch ein Tor im Zaun, das sich wie von Geisterhand für sie öffnete, die Straße entlang und schließlich in einen menschenleeren Bahnhof der Stadtbahn. Die Türen des gelbroten Wagons schlossen sich hinter ihnen, sobald sie eingestiegen waren. Eine Stimme vom Band verkündete draußen, man solle zurücktreten, und gleich darauf machte sich die S-Bahn rumpelnd auf ihren Weg.
Sie saßen sich gegenüber, doch Morgan beachtete Vivianne nicht. Er schien jeden Winkel des Zuges zu prüfen, bevor er seine Arme vor der Brust verschränkte, die langen Beine ausstreckte und sich zurücklehnte. Dabei zeigte er ein Bild entspannter Lässigkeit, von dem sie ahnte, dass es nur vorgetäuscht war.
Vivianne bemühte sich um eine angemessen blasierte Miene, als gehörten Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu ihrem Alltag. Doch die Fassade aufrechtzuerhalten fiel ihr immer schwerer, ihr Magen machte sich allmählich bemerkbar. Und sie war froh, dass es außer ihnen beiden nur zwei weitere Mitreisende gab. Einer davon musste Unmengen an Curry gegessen haben und der andere glaubte offenbar, dass sein billiges Eau de Cologne nicht nur den Geruch von kaltem Rauch übertünchte, sondern darüber hinaus verbarg, dass er es mit der Körperhygiene nicht so genau nahm. Beide wirkten, vielleicht zu ihrem Glück, nicht besonders appetitanregend auf Vivianne. Sie besann sich und hörte auf, die beiden anzustarren. Beim Umherschauen bemerkte sie eine Grafik aus bunten Linien, Punkten und merkwürdigen Ortsbezeichnungen, und als sie über jeder Tür ein solches Bild entdeckte, wurde ihr klar, dass dies ein Streckenplan sein musste, den man dort als Orientierungshilfe für die Fahrgäste angebracht hatte. Sie spürte Morgans Blick auf sich und drehte schnell ihren Kopf zur Seite. Über den Durchgängen von einem Wagen zum anderen tanzte eine Schrift, die offenbar die jeweils nächste Station anzeigte. Vivianne verlor sich in der Betrachtung des Spiels von Licht und Bewegung. Die rote Farbe erinnerte an Blut, und sie leckte sich unwillkürlich die Lippen. Unter halbgeschlossenen Lidern hervor schien Morgan sie beobachtet zu haben. Ersticktes Lachen, das schnell in ein Räuspern überging, holte sie aus ihren Fantasien zurück. «Bist du überhaupt schon mal S- oder U-Bahn gefahren?»
«Natürlich!» Nicht. Vivianne kreuzte die Arme über der Brust und sah zum Fenster hinaus. Sie kam sich ziemlich dumm vor, denn in den letzten Jahren hatte sie die größeren Strecken in Paris tatsächlich immer in ihrer Limousine zurückgelegt. Und auch zuvor hatte selten die Notwendigkeit bestanden, in derart engen Kontakt mit der menschlichen Bevölkerung zu treten. Man ging zu Fuß oder rief den Fahrer. Bei ihren Eltern hatte sie niemals etwas anderes erlebt. Viviannes einzige Erfahrung mit einem Zug war eine nächtliche Fahrt durch den Tunnel nach London gewesen. Damals war sie allerdings in Begleitung gereist und hatte sich um nichts anderes zu kümmern brauchen, als darum hübsch auszusehen. Weitere Strecken zurückzulegen barg stets ein gewisses Risiko und eine längere Reise musste überlegt geplant werden. Sogar uralte Dunkelelfen vermieden es, am hellen Tag zu reisen. Sie hatten Bedienstete, die jeden erforderlichen Ortswechsel zuverlässig organisierten. Die jüngeren von ihnen konnten natürlich ohne entsprechendes Personal schnell in bedrohliche Situationen geraten. Vivianne erkannte, dass sie Fragen von derartiger Wichtigkeit leichtsinnig ignoriert hatte. Als sei dies nicht schon schlimm genug, wäre ihre Tarnung als geschaffene Vampirin darüber hinaus dahin, sobald bekannt würde, dass sie sich in die Dunkelheit retten konnte, anstatt wie alle geschaffenen Vampire ihres Alters im Tageslicht einen schnellen Tod zu sterben. Ihr wurde es allerdings bereits ohne die theoretische Gefahr entdeckt zu werden bei der Vorstellung ungemütlich, sie könnte wegen eines technischen Defekts womöglich in eine Situation geraten, in der
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