Der Blutkristall
ihr schwärmte die Sterbliche ganz offen für verwegene Typen, und wenn Vivianne anmerkte, ihre Freunde würden zuweilen etwas streng riechen, dann lachte sie nur: Das sind die Pheromone , und leckte sich genießerisch über die Lippen. Vivianne verbannte die unerwartet schmerzliche Erinnerung aus ihren Gedanken. Hortense hatte sich nach ihrer Heirat nicht zum Vorteil verändert. Ihr Mann trug zwar maßgeschneiderte Anzüge, ihre Liebhaber aber nicht. Viviannes Laune war auf dem Tiefpunkt angekommen. Angewidert hielt sie eine transparente Bluse hoch. Es war eine Sache, nicht dem Anlass entsprechend gekleidet zu sein, ganz gewiss würde sie aber nicht in Kleidung herumlaufen, die vor Jahrzehnten modisch gewesen war, auch wenn sie einst der beste Designer der Stadt für Vivianne persönlich entworfen hatte. Sie wühlte weiter und zog einen hauchzarten BH hervor. Morgan hatte lange gebraucht, um die Tasche aus ihrer Wohnung in Paris zu holen, und an seiner Auswahl an feiner Wäsche war nichts auszusetzen. Der Gedanke daran, dass er sich ihre Höschen genauer angesehen haben könnte, weckte anstelle des zu erwartenden Gefühls der Demütigung ein sehnsüchtiges Verlangen in ihr. Wie es wohl wäre, wenn seine Hände jedes Dessous an ihrem Körper begutachteten, um es ihr dann in mühsam unterdrückter Leidenschaft auszuziehen? Sie würde seinen Blicken ausgeliefert sein, den Rücken biegen, die Hüften anheben und langsam die Beine spreizen ... Das ist ja lächerlich! Niemals würde sie etwas mit einem wie ihm anfangen, und überhaupt, wenn dann wäre Cyron schon eher ihr Typ. Blöd nur, dass die Berührungen des Elfs sie beruhigten, statt
angenehme Schauer über ihren Körper zu jagen, wie es bereits der Gedanke an Morgan fertigbrachte.
Sie warf ihre restliche Unterwäsche und ein T-Shirt, das immerhin als Nachthemd dienen konnte, auf das Bett, nahm die Reisetasche und stürmte aus dem Loft. Gestern war ihr ein Secondhandladen ein paar Häuser weiter auf der anderen Straßenseite aufgefallen und auf diesen steuerte sie nun zu. Dank der fortgeschrittenen Jahreszeit hatte er auch jetzt, nach Sonnenuntergang, noch geöffnet und die Inhaberin, die sie freundlich empfing, war genau nach ihrem Geschmack. Die junge Frau erkannte sofort die Qualität von Viviannes Angebot.
Nach einigem Hin und Her hatte sie freie Auswahl, und als auch der Designeranzug, den sie nun schon den dritten Tag trug, seinen Besitzer wechselte, erhielt sie obendrein wertvolle Tipps im frechen Dialekt der gebürtigen Berlinerin. Es stellte sich heraus, dass Vivianne sich nicht vergebens so lange in den modischsten Kreisen Londons und später Paris bewegt hatte. Rasch erkannte sie die Details des hiesigen Stils. Die Ladeninhaberin zeigte sich beeindruckt, begann schließlich ebenfalls neue Looks auszuprobieren und die beiden Frauen verabschiedeten sich nach zwei vergnüglichen Stunden als Freundinnen. «Du kannst gern jederzeit deinen Kleiderschrank bei mir erleichtern.» Vivianne sah nachdenklich die Straße entlang und erkannte, dass dies womöglich der Start in ein neues Leben war. Sie beschloss, das Schicksal so zu nehmen, wie es sich ihr anbot, da öffnete sich noch einmal die Ladentür. «Dieser Zettel war in deiner Hosentasche.»
Erstaunt nahm sie das zerknitterte Stück Papier entgegen, das sie im Hotel in Paris hinter dem hässlichen Vorhang entdeckt und anschließend völlig vergessen hatte. Eine Berliner Adresse war darauf notiert.
«Weißt du, wo das ist?»
Die Frau warf einen kurzen Blick darauf: «Am Wannsee.» Auf Viviannes ratlosen Blick hin ergänzte sie mit einem Schulterzucken: «Wo die Schönen und Reichen wohnen. Nicht meine Welt.»
Vivianne zupfte an ihrem in die Jahre gekommenen T-Shirt, das exakt oberhalb eines silbern glänzenden Totenkopfes endete, der ihren neuen breiten Ledergürtel schmückte. Eine Villengegend war nach diesem Kleidertausch auch nicht mehr der passende Aufenthaltsort für sie. Das hätte ihr Kopfzerbrechen bereiten sollen, doch ganz unerwartet fühlte sie sich regelrecht erleichtert, als hätte sie mit der eleganten Garderobe auch eine Last von ihren Schultern gestreift. Dabei war der fast bodenlange Mantel, den sie jetzt trug, keineswegs aus minderwertigem
Material, er war hervorragend geschnitten und fühlte sich federleicht an.
«Danke!» Sie warf die wieder prallgefüllte Reisetasche über ihre Schulter. Morgan würde Augen machen. Sie hätte wetten mögen, dass er ihr niemals im Leben zugetraut
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