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Der Blutkristall

Titel: Der Blutkristall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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merkwürdigen Stimmen erzählte, die sie gehört haben wollte. Lieber nicht. Er hält mich sowieso schon für nicht besonders scharfsinnig. Und das störte sie, obwohl es ihr sonst völlig gleichgültig war, was die Leute von ihr dachten. Natürlich nur so lange, wie niemand glaubt, ich bin schlecht gekleidet, dachte sie in einem Anflug von Selbstkritik und blickte – dessen ungeachtet und wohl aus alter Gewohnheit – in den stumpfen Spiegel, der in Morgans Unterschlup hing. Sie sah sich zum ersten Mal in ihrer neuen Identität. Cyron hatte gesagt, man müsse nicht nur die Stadt, sondern auch sein gesamtes Umfeld, den Stil und seinen Beruf ändern, um Spuren zu verwischen. Ihre Reise nach Berlin schien die beste Gelegenheit für diesen Schritt zu sein. Was die Schicksalsgöttinnen an Überraschungen bereithielten, wusste niemand.
    «Kannst du den Stein noch fühlen?» Morgan schien nicht viel Sinn für ihre modische Verwandlung zu haben. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal bemerkt, dass Vivianne etwas unerhört Anderes trug als während der letzten zwanzig Jahre. Sie schob diesen Gedanken beiseite und öffnete sich der Magie ihrer Umgebung, bis die Nervenenden an ihren Fingerspitzen vibrierten. Tausend Schicksale, Schreie der Angst, Tod, alles konnte sie fühlen. Dazwischen der Blutkristall. Er war nicht weit. Seine Kraft rief nach ihr, und Vivianne gelang es, die anderen Eindrücke zu dämpfen. Wo bist du? Sie hatte ganz bestimmt keine Antwort erwartet und rang nach Atem, als eine dunkle Stimme ertönte: Komm zu mir, mein Engel!
    «Vivianne?» Morgan berührte ihre Schulter. «Was ist los?»
    Wie sollte sie ihm erklären, dass da draußen jemand auf sie lauerte. Jemand, der wusste, wer sie wirklich war. Unmöglich! Vivianne schüttelte diesen beklemmenden Gedanken ab. «Der Dieb hat die Beute noch nicht ausgehändigt», flüsterte sie. Trunken von der Magie des Blutkristalls wollte der Mann offenbar ein Stück des Glücks für sich selbst.
    «Das ist doch gut.»
    «Aber ich bin sicher, er kann die Magie spüren und steht unter ihrem Schutz.»
    Morgans Augen wurden schmal. «Dann wird er den Stein behalten wollen. Wir sollten ihn schleunigst finden.» Er holte eine Schüssel hervor und stellte sie auf den Tisch. «Setzt dich.» Mit einer Handbewegung löschte er alle elektrischen Lichter in der Wohnung. Lediglich die sieben Kerzen auf dem schweren schmiedeeisernen Leuchter, die er entzündet hatte, zauberten mit ihren warmen Flammen eine gespenstische Atmosphäre. Der Vampir goss eine Flüssigkeit in die Schale, deren Duft sich über Vivianne ausbreitete wie eine schwere Daunendecke. Die feinen Linien auf der Oberfläche glätteten sich allmählich, bis sie in einen dunklen Spiegel blickte. Morgan sah sie an und legte einen Finger auf seine Lippen, als würde er ihre brennenden Fragen kennen. Also gut, sie wollte vorerst schweigen. Zufrieden schloss er kurz die Augen, wie um sich zu konzentrieren, breitete die Hände über der Schale aus und murmelte in einer fremdartigen Sprache eigentümlich ergreifende Verse: «Tá mé i mu shuí ...»
    Fasziniert beobachtete sie, wie die Gesichtszüge des Vampirs sich veränderten, als glitt eine sorgsam gepflegte Maske herab. Morgan lächelte schließlich sogar. Aufmerksam folgte sie seinem Blick in den magischen Spiegel, den er hier so meisterhaft zu beschwören wusste. Wolken eilten, wie von orientierungslosen Winden getrieben, über das tiefe Schwarz. Unvermutet gaben sie ihre Reise auf, als gehorchten sie Morgans sanfter Stimme, türmten sich zu einem einzigen Gewittergebirge auf, ein Blitz ging nieder und da war er: der Blutkristall! Der rote Stein glitzerte in der Hand eines Mannes, der beinahe liebevoll mit einem Tuch über seine strahlende Oberfläche strich. «Schenk mir deine Magie», flüsterte der Unbekannte und ein Lichtstrahl tauchte die Szene für Sekunden in helles Licht. Unwillkürlich streckte Vivianne ihre Hand aus und sofort verschwand das Bild, als habe sich ein Vorhang geschlossen. Ein Windstoß löschte alle Kerzen. Morgan stieß einen Fluch aus.
    «Es tut mir leid!»
    Er trug die Schüssel zur Badewanne und entleerte sie. Vivianne fand sich plötzlich spießig, weil sie darauf wartete, dass er hinterherspülen würde. Er tat es nicht. Ihre Entschuldigung wollte er offenbar auch nicht hören, sein Profil wirkte verschlossen, sie fragte mit leiser Stimme: «Weißt du, wo er sich versteckt?»
    Der Vampir stellte die Schüssel zurück ins Regal, und bevor

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