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Der Blutkristall

Titel: Der Blutkristall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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vielleicht beobachtete. Viel würde ein Spanner ohnehin nicht zu sehen bekommen. Das warme Wasser umschmeichelte ihren Körper, ein angenehmer Duft hüllte sie ein, und wenn sie heute schon im Limbus geweilt hatte, dann war hier ein nahezu paradiesischer Zustand eingetreten. Sie sank tiefer in das Wasser, während im Hintergrund leise Musik erklang. Träge drehte Vivianne den Kopf und durch den Vorhang dichter Wimpern beobachtete sie, wie Morgan auf dem Tisch saß, vertieft in eine Melodie, während seine Finger mühelos die Saiten einer Gitarre zupften.
    Sie musste kurz darauf eingeschlummert sein, denn plötzlich war sie nicht mehr auf dem Kontinent, sondern in einer anderen Welt. Nicht ganz fremd und doch unbekannt. Sie drehte sich einmal um sich selbst. Ja, die Sprache kannte sie, mit der Architektur war sie entfernt vertraut, die Gerüche – grauenvoll. Dieser Ort glich so überhaupt nicht der britischen Metropole, in der Vivianne vor ihrem Umzug nach Paris gelebt hatte. Das London, in dem sie sich jetzt befand, war alt, schmutzig und nahezu farblos. Suchend bewegte sie sich durch die Gassen, sah in erschöpfte, vor ihrer Zeit gealterte Gesichter. Erst allmählich begann sie zu erkennen, dass es die Hoffnungslosigkeit war, die alle Farbe aus dem Leben der Menschen getilgt hatte.
    Die Kinder bemühten sich nach Kräften, den Haushalt in Ordnung zu halten. Schwielen an ihren kleinen Händen und schmerzende Rücken waren Zeugen ihres unermüdlichen Einsatzes. Niemand half ihnen dabei, die ungewohnten Arbeiten zu verrichten, die Magd war längst fort. Sie hatte bei jemandem eine Anstellung bekommen, der ihr wenigstens regelmäßige Mahlzeiten und einen warmen Platz vor dem Herd bieten konnte, aber sie hatte die Kinder nicht vergessen. Beide waren dankbar, wenn das Mädchen gelegentlich vorbeikam, einen Happen unter der Schürze, den sie bei ihrem neuen Arbeitgeber gestohlen hatte. In jenen Zeiten Grund genug, jemanden aufzuhängen oder in die Kolonien verschiffen zu lassen. Das wusste jeder. Aber sie war von der Mutter der Kinder immer anständig behandelt worden und bemühte sich nun nach Kräften zu helfen. Für den Hausherrn konnte sie allerdings ebenso wenig tun wie seine Kinder.
    Die Geschäfte liefen nicht nur schlecht, sie liefen gar nicht mehr. Neuerdings bevorzugten die eleganten Damen andere Werkstätten oder ließen ihre kostbaren Accessoires gleich beim Schneider fertigen. Handschuhmacher waren nicht mehr gefragt und ein unzuverlässiger, der schon morgens nach Schnaps roch, schon gar nicht.
    Selbst wenn Vater noch die Energie gehabt hätte, ohne seine Frau weiterzumachen, wären die Zeiten hart geworden. Bald drückten die Schulden so sehr, dass ihm die Deportation drohte. Er kaufte sich frei und sie verloren ihr Zuhause. Der neue Besitzer wurde «der geile George» genannt und war in der Gegend gut bekannt. Eine Art Immobilienhai des achtzehnten Jahrhunderts. George selbst führte allerdings gerne das Adjektiv «großzügig» im Namen, und um dieser Bezeichnung auch Ehre zu machen, duldete er fortan die drei abgerissenen Gestalten immerhin in der kleinsten Dachkammer, wo früher nicht einmal die Lehrlinge hatten hausen müssen. Dort lebten sie fortan ohne Kamin und Bett, aber selbstverständlich gegen eine gehörige Neuverschuldung und dem Versprechen, sich tagsüber nicht sehen zu lassen. Dabei hatte ein Haus in dieser Lage zwischen gutgehenden Läden weiterhin einigen Wert. Ein wenig Farbe und neue Scheiben in dem Erker, in dem schon der Großvater die elegantesten Handschuhe der westlichen Welt gezeigt hatte, ein ordentlicher Korsettmacher oder eine Modistin hätten genügend Miete eingebracht, um der kleinen Familie zumindest das Überleben zu garantieren. Aber George hatte andere Pläne, und Vater hockte ohnehin nur in der Taverne ums Eck, wo es Gin für wenige Schillinge und immer noch auf Pump gab. Und dort hatte er selbstverständlich auch den Verkauf des Hauses begossen.
    Eigenartigerweise beobachtete Vivianne die unglücklichen Ereignisse wie durch die Augen eines Jungen. Sie spürte, die kleine Schwester brauchte ihren Schutz, und sie litt mit den Kindern, als sie allmählich begriff, welches Drama sich in dem Haus abzuspielen begann. Eines Abends hielt sie ihr Ohr an die Tür zur Stube gedrückt: «Der Bengel ist zwar ins Kraut geschossen, aber für ein Jahr oder zwei taugt er noch als Kaminkehrer. Und deine Kleine», hier wurde Georges Stimme butterweich, «sie kann mir zur Hand gehen,

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