Der Blutkristall
Vampir mühelos in ihrem Bann zu halten. Arrogantes Luder! Aber so gefiel sie ihm. Sehr sogar, und er wollte gar nicht wissen, wie sein Freund Professor Freud dies kommentiert hätte.
Vivianne ging zum Kühlschrank. Inzwischen hatte sie trotz des engen Kleides wieder zu ihrer üblichen Haltung zurückgefunden, als wäre sie von Jugend an daran gewöhnt, eine wichtige Rolle zu spielen. Er beobachtete, wie sie trank: direkt aus der Flasche. Ein Blutstropfen blieb an ihren Lippen hängen. Für das Privileg, der Einzige zu sein, der dieses glitzernde Nass fortküssen durfte, hätte er ohne zu zögern getötet. Träum weiter! , ermahnte er sich. Die Sirene fuhr sich mit der Zungenspitze über den Mund ... er keuchte.
«Oh, du bist wach!», sie drehte sich langsam um, ihre Nasenflügel bebten. «Sehr wach», gurrte sie und kam auf ihn zu.
Gott, was habe ich getan, um dieser Folter ausgesetzt zu werden? Gewiss mehr als der Dieb, der vielleicht soeben sein Leben aushauchte. Hoffentlich ohne den Verbleib des Blutkristalls preisgegeben zu haben. Morgan sprang auf. Das Juwel durfte nicht verloren gehen.
«Ich habe ihn gefunden!»
Sie riss die Augen auf und sah sich orientierungslos um. «Wen hast du gefunden? Den Heiligen Gral?» Sie lachte und kam noch näher.
«Nein, den Dieb.»
«Ach so, natürlich! Welchen Dieb ...?»
«Was ist mit dir los?» Morgan kannte die Antwort. Ihr Blick wirkte nicht besonders fokussiert, außer vielleicht auf seine plötzlich unangenehm enge Jeans, und er machte einige Schritte zurück, wobei er sich inständig wünschte, dass sie diesen verführerischen Hüftschwung nicht so vollendet beherrschte, mit dem sie ihm folgte. Vivianne war offenbar betört von dem Blutcocktail, den man bei den hiesigen Festen gerne ausschenkte, um sich auf Kosten unerfahrener Vampire zu amüsieren. Sebastian, der verhasste Name blieb ihm fast im Hals stecken, Sebastian gehörte genau zu der Sorte Dunkelelfen, die Freude an manipulativen Spielchen dieser Art hatten.
«Vivianne!» Sie blieb stehen. «Hast du mich nicht verstanden? Ich weiß, wo der Dieb steckt. Wir müssen ihn da rausholen, bevor jemand herausfindet, welche Art von Edelstein er tatsächlich anzubieten hat.» Sie drehte sich auf dem Absatz um und verschwand im Schlafzimmer. Morgan sah ihr verständnislos nach. Sie konnte doch jetzt nicht ... Erotische Visionen tauchten ungefragt vor ihm auf. Und in jeder einzelnen war sie die Hauptdarstellerin.
«Also los!»
Er hatte sich geirrt. Sie stand in Hosen und einem, für seinen Geschmack etwas zu engen, T-Shirt vor ihm. Morgan korrigierte sich. Ihm gefiel, wie der dünne Stoff ihre Kurven betonte und einen Streifen Haut zeigte, aber andere täten gut daran, nicht zu genau hinzusehen, wenn er sich in der Nähe befand. Sie ist eine Gefahr für jeden Mann. Eigentlich müssten mich ihre Paten fürstlich dafür entlohnen, dass ich ihre Aufgaben übernehme! Aber es kam ihm nicht in den Sinn, Vivianne zu hintergehen und ihren Beschützern zu verraten, wo sie sich zurzeit befand – und vor allem warum sie in seiner Obhut war.
Sie zeigte immerhin keinerlei Anzeichen für eine Vergiftung. Offenbar war es ihm gelungen, sie rechtzeitig am Trinken von mehr als nur ein paar Tropfen des zweifellos mit Aphrodisiaka oder schlimmeren Giften versetzen Drinks zu hindern.
Er warf Vivianne ihren Mantel zu. Woher sie den hatte, war ihm schleierhaft. Er passte eher zu einer Großstadtkriegerin als zu dem verwöhnten Weibchen, das er in Paris kennengelernt hatte. Obwohl ihnen kühles Wetter nichts ausmachte, war es Vampiren zur Gewohnheit geworden, sich der Jahreszeit entsprechend anzuziehen, um in der menschlichen Gesellschaft nicht aufzufallen. Sie musste seine Abwesenheit genutzt haben, um alle Kleidung, die er in Paris für sie eingepackt hatte, gegen etwas anderes umzutauschen. So viel Kreativität hatte er ihr gar nicht zugetraut, ebenso wenig die Fähigkeit, sich nicht nur im Kleidungsstil ihrer neuen Umgebung anzupassen. Die kleine Hexe hatte mehr Ressourcen, als er anfangs angenommen hatte, und er würde gut aufpassen müssen, damit sie ihn nicht an der Nase herumführte wie einen willigen Tanzbären. Morgan erhob sich und versuchte ein Lächeln zu verbergen. Niemals hatte er gedacht, dass ihm die Jagd nach dem Blutkristall dermaßen viel Spaß machen würde, und diesen Wildfang würde er auch noch zähmen.
Sie hatten gerade die Terrassentür hinter sich zugezogen, da ertönte der Vibrationsalarm seines Handys.
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