Der Blutkristall
dachte sie und schlich lautlos zum Wirtschaftstrakt der Villa, der gut versteckt hinter hohen Büschen lag. Und auf einmal erschien vor ihr, was sie ganz kurz in Morgans Erinnerung hatte aufblitzen sehen, bevor er sie wieder komplett vor ihr verborgen hatte: ein eingeschossiger Ziegelbau, der früher vielleicht einmal ein Pferdestall gewesen war. Sie prüfte die Luft mit ihrer empfindlichen Nase. Ja, der Duft der ehemaligen Bewohner war unverkennbar, aber jetzt beherbergte das lang gestreckte Gebäude nur einen Gast und bei diesem handelte es sich gewiss nicht um einen Vierbeiner. Irgendwo hier saß der Dieb. Vermutlich gut gesichert, aber weil er «nur» ein Sterblicher zu sein schien, standen die Chancen nicht schlecht, dass man ihn mit keinem besonderen Aufwand bewachte. Sie wusste, dass es klüger wäre, wenn sie auf Morgans Rückkehr wartete. Er war schließlich der Detektiv, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie tatsächlich in dem alten Stallgebäude erwartete, aber sie fühlte sich stark und mehr denn je wie eine Vampirin, die endlich ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen sollte und dies auch konnte. Immerhin hatte der Kerl dort drinnen es gewagt, ihren Rubin zu stehlen. Das tut niemand ungestraft mit einer Causantín! Ihre Reißzähne glitten ein Stück hervor. Noch nicht! , beruhigte sie die wütenden Stimmen in ihrer Seele, die sein Blut forderten. Erst brauche ich den Kristall zurück, dann werden wir uns etwas ganz Besonderes für ihn ausdenken , versprach sie. Vivianne legte ihr Ohr an die raue Ziegelwand. Im Inneren hörte sie den Herzschlag von zwei Lebewesen. Das leichte Kribbeln unter ihrer Haut reichte als Warnung. Jemand näherte sich dem Gebäude. Lautlos glitt sie tiefer in die Dunkelheit und versuchte ihre Präsenz zu verschleiern, bis hoffentlich niemand mehr etwas davon bemerken würde. Dann wartete sie ab. Die Vorahnung hatte sie nicht getäuscht. Schritte kündigten den Besucher an, und kurz darauf tauchte ein Mann im Kegel der Hoflaterne auf. Er machte sich offenbar keine Gedanken darüber, ob ihn jemand hören konnte. Allerdings verwandte er große Mühe darauf zu verbergen, was er war. Aber ganz gelang es ihm nicht. Vivianne hätte schon an seiner Art sich zu bewegen den Vampir erkannt. Die Aura, die ihn umgab, war unverwechselbar. Besonders erfahren konnte er nicht sein, doch für einen menschlichen Gefangenen mochte sein Talent ausreichen. Sie beobachtete aus ihrem Versteck heraus, wie er eine alte Holztür öffnete und dahinter verschwand.
«Du kannst eine Pause machen», sagte jemand mit osteuropäischem Akzent. Das musste der Vampir sein. Ein Mann mittleren Alters erschien in ihrem Blickfeld und gleich darauf hörte sie, wie seine Schritte eilig in der Ferne verhallten. Offenbar war er nicht besonders scharf darauf, mit dem Neuankömmling unter einem Dach zu sein. Möglicherweise eine kluge Entscheidung.
«Hast du es dir inzwischen überlegt?» Die Worte klangen weit harmloser als der Ton, in dem sie gesprochen wurden.
Vivianne stellte sich auf Zehenspitzen, ein Weißdornzweig kratzte über ihren Arm, aber sie ignorierte den kurzen Schmerz, denn durch die trüben Scheiben eines kleinen Fensters konnte sie sehen, mit wem er sprach. Ein Mann war mit Eisenbändern an die Wand gekettet, die wirkten, als habe man sie aus irgendeinem mittelalterlichen Verlies mitgehen lassen. Dafür glänzten sie bei genauerem Hinsehen allerdings eine Spur zu sehr, offenbar war er nicht der Erste, den man hier gefangen hielt. Er stand aufrecht, das dunkle Haar fiel ihm in die Stirn, auf der eine frische Verletzung zu sehen war. Das getrocknete Blut konnte Vivianne auf ihrem verborgenen Beobachtungsposten glücklicherweise nicht besonders gut riechen. Sie konnte jetzt keine Ablenkung gebrauchen. Er bemühte sich, dem Blick des Vampirs auszuweichen, der jetzt dicht vor ihm stand. Ich hätte diesem aalglatten Kerl niemals vertrauen dürfen. Seine Gedanken kamen klar und deutlich bei ihr an, und sie hätte sich vor Schreck beinahe verraten. Falls er Carl meinte, konnte sie ihm nur beipflichten. Vom schnellen Erfolg beflügelt versuchte Vivianne mehr zu erfahren, doch sie stieß gegen eine Mauer des Schweigens. Merkwürdig. Es gab nur wenige Sterbliche, die ihre Gedanken vergleichbar gut zu verbergen wussten wie dieser hier. Sie machte einen neuen Versuch, schlich sich gewissermaßen durch die Hintertür hinein und wurde endlich fündig. Einiges erschien so klar, als habe er es laut
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