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Der Blutkristall

Titel: Der Blutkristall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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«Nicht jetzt!» Morgan ließ einen herzhaften Fluch hören, der ihr gewiss die Schamröte ins Gesicht getrieben hätte, wenn sie auch nur ein Wort davon verstanden hätte. Er zog den elektronischen Störenfried hervor und warf einen Blick auf das Display.
    «Ist etwas geschehen?»
    Ihre Stimme hörte er nur durch einen Schleier.
    «Bitte ...», er sah ihr in die Augen, «bitte bleib im Apartment. Ich bin so schnell wie möglich zurück!» Ehe sie fragen konnte, was eigentlich passiert war, verschmolz seine Gestalt mit den Schatten. «Morgan?», hörte er ihre Stimme aus der Dunkelheit. Sie klang unsicher, und er wäre am liebsten sofort wieder umgekehrt. Hoffentlich tat sie, worum er sie gebeten hatte. Widerstrebend schüttelte er seine Sorge um Vivianne ab und trat in die Zwischenwelt ein. Jeder Vampir besitzt besondere Fähigkeiten , hatte sein Lehrmeister und einstiger Freund erklärt, als er erschrocken berichtet hatte, wie leicht es ihm nach wenigen Versuchen gefallen war, durch diese Dimension zu reisen. Morgan wollte sich nicht beklagen, dieses Talent war eine praktische Sache, zumal es ihm niemand zutraute. Auch Ednas Kerkermeister hatte den Fehler gemacht, ihn zu unterschätzen, und dies beinahe mit seinem ewigen Leben bezahlt. Mit einem grimmigen Lächeln materialisierte er sich in den Tiefen des Fabrikgebäudes, das er sich mit Bedacht als Wohnsitz ausgesucht und zu einer Bastion ausgebaut hatte.
    Doch binnen Sekunden war ihm klar geworden, dass Ednas Kräfte größer waren, als gedacht. Sie ist nicht mehr die Frau, die du gekannt hast. Morgans Freund hatte ihn immer wieder eindringlich gewarnt, doch seine Treue war größer gewesen als seine Vernunft. Als er nach fast drei Jahrhunderten durch Zufall herausgefunden hatte, dass sie an jenem schrecklichen Abend in London nicht gestorben war, hatte Morgan alles daran gesetzt, Edna zu befreien. Eines Tages würde er ein Heilmittel finden, das ihm die heitere unbeschwerte Gefährtin seiner Jugend zurückgab, hatte er vollmundig geschworen und sich schließlich darüber sogar mit Sebastian überworfen. Dieser war nach New York gegangen, Morgan nach Berlin. Und heute hatten sie sich das erste Mal nach ihrem Zerwürfnis wiedergesehen. Wie es aussah, war die Kluft zwischen ihnen unüberbrückbarer denn je. Sebastian machte den Eindruck, als täte er nichts lieber, als Morgan auf der Stelle zu töten. Warum sein ehemaliger Freund allerdings einen solchen Hass empfand, blieb für ihn rätselhaft. Vielleicht war es Eifersucht, und er hatte dessen Gefühle all die Jahre falsch eingeschätzt. Es gab Zeiten, da waren sie sogar Liebhaber gewesen, doch beide fühlten sich stärker zu Frauen hingezogen als zu ihrem eigenen Geschlecht. Und so hatten sie auch manch eine Sterbliche gemeinsam verführt. Durch die Jahrzehnte war die erotische Seite ihrer Freundschaft jedoch allmählich verblasst. Dennoch gab es selten Streit zwischen ihnen, und eine tiefe Freundschaft verband die beiden Vampire bis zu jenem Tag, als Morgan erfuhr, dass Edna noch am Leben war.
    Sebastians Warnungen zum Trotz lief anfangs alles gut mit ihr. Sie war zwar unselbstständig und auf Morgans Hilfe angewiesen, aber sie machte schnell Fortschritte und zeigte normale Reaktionen. Und dann auf einmal, fast so, als hätte man einen Schalter umgelegt, wurde alles komplizierter. Es gab Fluchtversuche, hysterische Anfälle und sogar Attacken gegen Morgan. Danach folgten wieder ruhigere Phasen, und er schöpfte erneut Hoffnung, dass sie sich von ihrer jahrhundertelangen Gefangenschaft erholen würde. Aber da waren immer neue Rückschläge. In letzter Zeit war sie besonders aktiv, fast so als wolle sie das Schicksal herausfordern, ihrem Martyrium ein Ende zu setzen. Anfangs, also kurz nach ihrer Befreiung, war Edna höchstens alle vier Wochen, meist um Neumond herum, erwacht und Morgan stand immer bereit, um ihr Blut einzuflößen. Ganze Nächte hatte er dagesessen und sie in seinen Armen gehalten, bis die schlimmsten Anfälle vorüber waren. Sie besaß den Körper eines zarten Vögelchens, aber die Kraft einer Tigerin, und diese Nächte erschöpften ihn zunehmend. Ihr komagleicher Schlaf endete inzwischen immer früher, und irgendwann war das Unvermeidliche passiert. Genau so, wie er es die ganze Zeit insgeheim schon befürchtet hatte. Morgan kam eines Abends zu spät und sie war verschwunden. Schnell hatte er ihre Fährte aufgenommen und was er dann entdeckte, übertraf selbst die Vorstellungskraft eines

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