Der Blutkristall
ausgesprochen: Er war der unbekannte Einbrecher. Dies hatte ihr aber schon sein Geruch verraten, den sie sofort wiedererkannt hatte. Er hieß Salai Caprotti, lebte seit Längerem in Berlin, stammte allerdings aus einem Stadtteil im Norden Londons. Er liebte Apfelkompott und das Hinterteil seiner Freundin, das den Früchten im unverarbeiteten Zustand glich. Sie war auf Reisen und fehlte ihm. Dies alles war mehr, als Vivianne wissen wollte, – und weniger, als sie wissen musste. Die wichtigste Information, nämlich wo er ihren Rubin verborgen hielt, gab er nicht preis, so sehr sie sich auch bemühte. Dabei hätte sie fast schwören können, dass der Stein sich irgendwo in der Nähe befand. Hatte man ihm das Juwel bereits abgenommen?
Womöglich wäre Morgan an ihrer Stelle erfolgreicher gewesen. Sie erinnerte sich daran, wie problemlos er den ebenfalls sehr verschlossenen Rezeptionisten in Paris gelesen hatte. Aber natürlich gab es für ihn Wichtigeres als ihre Probleme, und so war sie eben auf sich allein gestellt. Ihr mochte seine langjährige Erfahrung fehlen, was sie aber erkannte, war, dass diesem Salai eine Stärke innewohnte, die weit über das hinausging, was man von einem Sterblichen erwarten durfte. Und dies konnte nur eines bedeuten: Die Magie des Blutkristalls schützte ihn. Diesem verdammten Ding schien tatsächlich ein eigener Wille innezuwohnen. Dies war einer der zahlreichen Gründe gewesen, warum ihre Brüder so schwer davon zu überzeugen gewesen waren, dass er sich bei ihr in guten Händen befinden würde. Inzwischen bewahrte sie ihn nun schon seit mehr als zwanzig Jahren auf und es hatte niemals Probleme gegeben. Für Vivianne ein eindeutiger Beweis, dass er zu ihr gehörte.
Der Vampir trat ganz dich an den Gefangenen heran. Sie wagte einen kurzen Blick in seine Gedankenwelt und hätte beinahe ein erleichtertes Seufzen von sich gegeben. Carl hatte bisher nicht herausfinden können, was es war, das der Dieb verborgen hielt. Seine Verhaftung stellte sich als ein zufälliges Missgeschick heraus. Salai war hier nicht unbekannt, und als Wachleute ihn dabei erwischten, wie er durch den Garten des Statthalters spazierte, hatten sie angenommen, der Dieb sei aufgetaucht, um Hehlerware anzubieten. Sie waren schon dabei gewesen, ihn wegen der geplanten Party wieder fortzuschicken, als Carl in ihrem Büro aufgetaucht war. Es war Salais eigentümliche Aura gewesen, die ihn veranlasst hatte, den Dieb gefangen zu setzen. Er war an diesem Abend zu beschäftigt, um sich um seinen Gast zu kümmern, doch das, so hatte er gedroht, würde er nachholen.
Es war nicht unüblich, dass er Geschäfte auf eigene Rechnung abwickelte. Häufig nahm er dabei mit einem Foto der Ware vorlieb, verhandelte die Preise und beauftragte seine Leute, sie später an einem sicheren Ort zu übernehmen. Darin lag kein Risiko, denn niemand betrog einen so mächtigen Mann, wie es der einflussreichste Mitarbeiter des Statthalters nun einmal war. Und sollte es doch einmal jemand versuchen, dann tat er dies gewiss kein zweites Mal. Mit seinem arroganten Auftreten hatte er viele gegen sich aufgebracht, aber bisher wagte niemand den offenen Aufstand.
Vivianne erinnerte sich an den gefolterten Vampir, dessen Freundin Carl vor seinen Augen geschändet hatte. Wenn dies seine Art war, Aufsässige mundtot zu machen, wunderte es sie nicht, dass ein jeder, den sie bisher beobachten konnte, sich ihm gegenüber ungewöhnlich höflich und respektvoll verhielt.
Neben diesen nützlichen Informationen fand sie eine gehörige Portion Ärger. Der Vampir hatte gute Lust, nicht mehr lange ein Geheimnis aus seiner Natur zu machen, und entgegen allen Anweisungen den Grund seines Hierseins notfalls aus diesem lächerlichen Sterblichen herauszusaugen. Sein Chef, das hoffte er zumindest, würde ihn reich dafür belohnen.
Du darfst das nicht zulassen!
Vivianne zuckte zusammen. Doch obwohl sie sich prüfend umsah, konnte sie niemanden sehen. In der Ferne hörte sie den Ruf eines Raben. Nabrah, bist du das? Keine Antwort. Wie stellst du dir das vor? Soll ich etwa einfach hineingehen, den Vampir niederschlagen und mit dem Dieb verschwinden? Wieder krächzte ein Vogel, dieses Mal schien er in den Bäumen über ihr zu sitzen. Und plötzlich wurde ihr klar, dass dies die Chance war, auf die sie lange gewartet hatte. Nämlich zu beweisen, dass sie kein Püppchen war, das von mächtigen Vengadoren beschützt wurde und das bei jeder Schwierigkeit zu ihren Brüdern rannte.
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