Der Blutkristall
des Anwesens war ausgeschlossen und in ihrem Apartment konnte sie erst einmal in Ruhe zu Ende überlegen.
Nur ein kaum hörbares Pfeifen kündigte die Attacke des Vampirs an. Salai flog unter dem Aufprall in ein Gebüsch und hatte genug Verstand, dort reglos liegen zu bleiben. Vielleicht war er ja auch wirklich ohnmächtig. Vivianne blieb keine Zeit, darüber zu spekulieren. Lange Krallen bohrten sich in ihre Schulter. Sie fuhr herum. «Hallo, Süßer! Wieder wach?» Die Frage war rhetorisch. Das Gesicht des Vampirs war zu einer mordlüsternen Fratze verzogen, Geifer tropfte von seinen Zähnen und seine Augen leuchteten blutunterlaufen in der Dunkelheit. «Himmel, das ist so unästhetisch!» Vivianne holte aus und versetzte ihm einen Stoß, der ihn nach hinten taumeln ließ. Leider erholte er sich schnell von seiner Überraschung und sprang sie erneut an. Sie nutzte den Schwung seiner Bewegung mit einer raschen Drehung aus und ließ ihn ein weiteres Mal sein Ziel verfehlen. Doch der Vampir war nicht völlig unerfahren. Hatte er bisher geglaubt, leichtes Spiel mit ihr zu haben, begann er nun, die Auseinandersetzung persönlich zu nehmen. Grollend umrundete er Vivianne, deren Erfahrung im Kampf sich auf ein paar Übungsstunden mit Kieran beschränkte. Nicht, dass ihr Bruder ein schlechter Lehrmeister gewesen wäre, sie hatte nur keinen Sinn darin gesehen, sich mit ihm zu prügeln. Und bei dieser Meinung war sie auch geblieben, als ihre Schwägerin sie zur Seite nahm, um ihr eindringlich zu versichern, dass jeder Vampir, der mehr als nur ein paar Jahrzehnte überleben wollte, gut daran tat, sich in Selbstverteidigung zu üben. Vivianne hatte nur gelacht und gesagt, dass sie, anders als ihre Verwandten, sich nicht für die Welt der Schatten interessierte. Einen Sterblichen konnte selbst der schwächste Vampir besiegen, ohne sich dabei auch nur einen Fingernagel abzubrechen. Möglicherweise war das etwas voreilig , dachte sie und biss ihrem Angreifer in den Arm, den er um ihre Gurgel legen wollte. Sie hatte seinen Sprung nicht einmal kommen sehen. Er fauchte, aber sie ließ nicht los, und schließlich lockerte sich sein Griff. Vivianne drehte sich blitzschnell um und trat ihm zwischen die Beine. Er taumelte zurück und genau in diesem Augenblick fiel ein Schwarm schwarzer Vögel vom Himmel. Im Nu hatten sie den Vampir mit gespenstischer Lautlosigkeit eingehüllt. Ein Flügelschlag, ein Krächzen. Mehr war nicht zu hören, und Vivianne wusste nicht, ob der erstickte Laut aus ihrer Kehle oder von ihrem Opfer gekommen war. Unerwartet hob sich das gefiederte Leichentuch und ließ nur eine Handvoll Asche zurück, die vom Flügelschlag der tödlichen Kreaturen in alle Himmelsrichtungen geweht wurde. Starr vor Entsetzen sah Vivianne den Tieren nach, wie sie immer höher in den Himmel stiegen und irgendwann der letzte Vogel von der Nacht verschluckt wurde.
«Ma Puce, was machst du hier?»
«Cyron?» Die passendere Frage, wie es ihm gelungen war, sich ihr unbemerkt zu nähern, kam nicht über ihre zitternden Lippen. «Hast du das gesehen?» Sie zeigte auf die Stelle, an der eben noch ein gefährlicher Gegner gestanden hatte.
«Was meinst du?» Dabei beugte er sich vor und zog Salai aus dem Gestrüpp. «Ah, ich verstehe. Wen haben wir denn hier? Wenn das nicht unser diebischer Freund ist.»
Vivianne konnte es dem Mann nicht verdenken, dass er seinen Leib fest umschlungen hielt und dabei wie ein heilsames Mantra wiederholte: «Das kann nicht sein, das kann nicht sein!», und sich im Takt zu den geflüsterten Worten wiegte. Cyron berührte Salais Stirn mit seinem Daumen und sofort wurde dieser ruhiger, schlug endlich die Augen auf und sah sie beide mit klarem Blick an. «Wer seid ihr?»
«Es kommt jemand!» Schritte näherten sich, und Vivianne nahm an, dass die sterbliche Wache zurückkehrte, die der Vampir fortgeschickt hatte. Cyron schien ihn auch zu hören. Er griff ihren Arm und zerrte beide, Vivianne und den Dieb, hinter sich her. «Wohin bringst du uns?»
«Zum See. Oder möchtest du herausfinden, was passiert, wenn der Wachmann gleich Alarm schlägt und unser lieber Statthalter erfährt, dass du mit dem Dieb durchgebrannt bist?»
Vivianne hatte keine Lust dazu und beschleunigte ihre Schritte. Dennoch fragte sie: « Unser Statthalter?»
Cyron lachte nur und gab Salai einen Stoß, sodass er in ein Boot stolperte, das am Ende eines Stegs auf den Wellen schaukelte. Elegant sprang er hinterher und reichte Vivianne die
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