Der Blutkristall
Hand. «Immer neugierig. Deine Fragen kannst du später stellen, komm! Venez, Mademoiselle.»
Gerade hatten ihre Füße die Planken berührt, da blähten sich bereits die dunklen Segel und sie glitten lautlos auf den See hinaus. Wenig später waren die Lichter am Ufer kaum noch zu sehen. Ihr Gefangener kauerte am Boden, wo er unsanft gelandet war, und rührte sich nicht. Vivianne hatte das Gefühl, inmitten eines unendlichen Nichts dahinzuschweben, und nur das leise Rauschen des Windes in ihren Ohren bewies, dass zumindest eines der vier Elemente noch existierte.
«Wohin fahren wir?»
«Leise. Stimmen tragen weit über einem See wie diesem.» Cyron navigierte geschickt am Ufer entlang, bis vor ihnen ein Steg auftauchte. Das Holz protestierte knarrend, als sie an den Anleger stießen und Vivianne, die während des letzten Teils der Überfahrt gestanden hatte, ging leicht in die Knie, um die unruhigen Bewegungen unter sich auszugleichen. Der Elf sprang an Land, zog sie zu sich auf den Steg und für Sekunden verharrte sie an seine Brust gelehnt und genoss die Stärke und Sicherheit, die von ihm auszugehen schien. «Ma Puce!» Einen Augenblick glaubte sie, er könne diese pulsierende Energie ebenfalls spüren, die ihre Knie weich werden ließ, wie es zuvor nicht einmal die Folgen des ungewohnten Kampfes geschafft hatten. Offenbar hatte sie sich getäuscht, denn Cyron strich ihr mit einer väterlich wirkenden Geste über die Wange und trat einen Schritt zurück. Seine Stimme klang ebenso kühl wie immer, als er Salai aufforderte auszusteigen. Er sah nicht einmal zurück, um sich zu überzeugen, ob der Dieb ihnen wirklich folgte. Vivianne allerdings vergewisserte sich lieber und war erfreut zu sehen, wie bemüht er sich zeigte, mit ihnen Schritt zu halten. Weniger erfreulich fand sie ihre plötzliche Neigung, sich irgendwelchen Männern an den Hals zu werfen. Sebastian, Cyron – Morgan. Sie unterdrückte einen Seufzer und durchquerte an der Seite des Lichtelfs einen Park, der gewiss schon bessere Zeiten gesehen hatte. Vivianne mochte den Anblick der alten Bäume. Ihr gefiel es, wie sich die kahlen Zweige über ihren nächtlichen Besuchern bogen. Dazwischen glitzerten vereinzelt Sterne, die aussahen, als habe sie jemand zum Schmuck dort hingehängt, um die winterlichen Riesen für den vorübergehenden Verlust ihrer Blätter zu entschädigen. Sie umrundeten eine etwas aus der Fasson geratene Hecke und vor ihnen zog sich die gewiss einstmals gepflegte Rasenfläche in sanftem Bogen einen Hügel hinauf, dessen Kuppe vom ehemaligen Herrenhaus gekrönt wurde. Sie stiegen ein paar Stufen hinauf, Cyron öffnete einen hohen Fensterladen und schob die dahinterliegende Terrassentür auf. Die staubige Luft der Vergangenheit bedrängte sie, und Vivianne verschloss sich gegen ihre tragischen Erzählungen, bis ihr nur noch der Geruch von altem Mauerwerk und Staub in den Salon folgte, wo Cyron auf ein Sofa zeigte. «Setz dich!» Bevor sie protestieren konnte, ließ sich Salai auf den zerschlissenen Stoff fallen und eine Wolke üblen Geruchs schlug ihr entgegen. «Was jetzt?»
Der Elf entzündete eine Kerze und wandte sich um. In diesem Augenblick sah sie Cyron wahrhaftig in einem völlig neuen Licht. Zum ersten Mal begriff sie wirklich, warum der Pakt zwischen Licht- und Dunkelelfen so außerordentlich bedeutend war. Obwohl sie es spätestens seit Cyron seine wahre Identität enthüllt hatte, eigentlich besser wissen sollte, hielt Vivianne das Feenvolk insgeheim immer noch für eine Bande flatterhafter Wesen, deren Vorfahren unter Bäumen gehaust hatten, die wie Heilige verehrt wurden. Durchaus magisch begabte Erdgeister, aber mit seltsamen Ohren und irgendwie zerbrechlich, die bestenfalls einen harmlosen Schadenzauber zuwege brachten. Was aber jetzt vor ihr stand und das Gesicht ihres langjährigen Freundes trug, war ein furchterregendes und gleichzeitig wunderbares Geschöpf, komponiert aus Nordlichtern in den Farben des Regenbogens und den Strahlen der Wintersonne, die mit ihren glitzernden Speeren aus Eis und Feuer tief in die Seele verborgener Welten drang. Und mittendrin schlug sein Herz. Einem blutroten Kristall aus den Tiefen der Mutter Erde gleich glühte es auch ohne das flackernde Licht der Kerze und drohte sie zu versengen. Regungslos verharrte Vivianne in der Bewegung, bis seine Hand sie erlöste. Cyron berührte ihre Schulter, und die Vision verschmolz mit den Schatten einer Nacht, deren verlässliche Dunkelheit ihr
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