Der Blutkristall
er in letzter Sekunde zurückgekehrt war. Hoffentlich noch rechtzeitig, um Vivianne vor größeren Schwierigkeiten zu bewahren. Er versuchte es erst einmal freundlich. «Aha! Jemand ist entkommen ...»
«Mylord, bitte, ich darf nichts sagen!»
Morgan lockerte seinen Griff und stellte den Unglücklichen wieder zurück auf die Füße. Er blieb bei seiner Strategie, in dieser Posse den eifersüchtigen Liebhaber zu geben. «Meinetwegen. Aber wenn Mademoiselle in Gefahr ist, reisen wir unverzüglich ab!»
«Es besteht kein Anlass zur Sorge. Der Statthalter möchte nicht, dass irgendjemand sein Refugium verlässt.»
«Ach ja? Dann möchtest du sicher gerne persönlich für ihre Sicherheit bürgen? Etwas leichtfertig, würde ich meinen. Sollten ihre Paten erfahren, dass Mademoiselle Vivianne gefangen gehalten wird, wo entlaufene Häftlinge die Gegend unsicher machen ...» Er ließ die letzten Worte wie eine Drohung in der Luft hängen, und der Vampir wurde grün im Gesicht. Der arme Kerl tat Vivianne ehrlich leid, andererseits genoss sie Morgans Inszenierung zu sehr, um ein gutes Wort für den Grünschnabel einzulegen. Aus seiner unangenehmen Lage würde ihn ihr Eingreifen ohnehin nicht befreien, mutmaßte sie. Schließlich tat ihr selbsternannter Beschützer nichts ohne Grund.
«Ich darf niemanden gehen lassen», flehte der Vampir. Seine Angst war deutlich zu schmecken.
Da klopfte es.
Erschrocken blickte Vivianne zu Morgan. Der lächelte ihr zu und öffnete erneut die Tür, den Vampir immer noch fest im Griff. Draußen standen zwei Abgesandte des Statthalters, die deutlich anderen Kalibers waren. «Mademoiselle Cirta, Lord Morgan, der Statthalter wünscht euch zu sehen.»
Morgan ließ seinen Gefangenen wie einen Schuh fallen. «Sicher wird er es begrüßen, wenn ich angemessen gekleidet bin.» Damit schlug er den verdutzten Vampiren die Tür vor der Nase zu. «Fünf Minuten!», kam es von draußen, und es bestand kein Zweifel, dass sie kaum eine Chance zu Flucht haben würden. Von Privatsphäre konnte vermutlich auch nicht die Rede sein und deshalb sagte Morgan deutlich: «Dann wollen wir uns mal nett zurechtmachen.» Er lächelte sie beruhigend an, und Vivianne bemühte sich nicht hinzusehen, als das Handtuch schließlich doch der Schwerkraft nachgab und Morgan kurz darauf den Reißverschluss seiner Lederhose behutsam schloss. Wenn sie der kurze Blick nicht täuschte, dann gab es da eine Menge zu schützen, und sie wäre die Letzte gewesen, die zugelassen hätte, dass so viel erfreuliche Männlichkeit womöglich durch eine ungeschickte Bewegung Schaden nähme. Er streifte ein T-Shirt über, auf dem neben Totenköpfen und scheußlichen Fratzen auch Spuren von Blut waren. Frisch. Sie sah ihn fragend an und erhielt nicht zum ersten Mal die Antwort: «Das erkläre ich dir später!»
Wenn ich bloß daran glauben könnte!
Vertrau mir. Und lass um Himmels willen niemanden deine Gedanken lesen! Morgan nahm sie bei der Hand, öffnete die Tür und schenkte ihren beiden Wächter, als solche erschienen sie Vivianne zumindest, ein offenes Lächeln.
Sie wurden zum Herrenhaus und durch einen Seiteneingang bis in den Thronsaal eskortiert. Gelächter wehte aus den angrenzenden Räumen herüber, der Duft erregter Menschen und die melodischen Klänge des Orchesters. Das Fest war noch längst nicht zu Ende.
«Wir haben euch vermisst!»
Vivianne fragte sich, ob der Statthalter tatsächlich so vermessen war, im Pluralis Majestatis von sich zu sprechen. Ausreichend voluminös war er allerdings, sodass man leicht zwei aus ihm hätte machen können. Diese Überlegung hellte ihre Laune deutlich auf. Morgan drückte ihre Hand und sie beschloss, ihm das Reden zu überlassen. Er kannte sich besser mit diesem Hofzeremoniell aus. Wieder stieg ein Glucksen ihre Kehle hinauf. Sie räusperte sich und erntete dafür einen verächtlichen Blick von Carl, dem Majordomus, der früher am Abend schon äußerst beleidigend zu ihr gewesen war. Vivianne hob eine Augenbraue. Er zeigte eine Reihe spitzer Zähne, die nicht durch ihre helle Farbe beeindruckten. Konnten diese Vampire sich nicht wenigstens den Anschein geben, wie gepflegte Kreaturen zu wirken? Sie wandte ihren Blick ab und verschränkte die Arme. Dabei berührte sie wie beiläufig ihren Armreif, dessen Schutz sie trotz Morgans Versprechen, sie habe nichts zu befürchten, gut gebrauchen konnte. Er wirkte konzentriert. Mit seiner lässigen Kleidung und der Sonnenbrille – Wo kam die
Weitere Kostenlose Bücher