Der Blutrichter
du ihn gekannt? Du bist nicht viel älter als ich.«
»Eine Siedlung im Burgund war von einer Horde von zwölf Männern überfallen und ausgeraubt worden. Dabei handelte es sich um das übelste Gesindel, das sich je in dieser Gegend hat blicken lassen. Über mehrere Tage und Nächte hinweg wütete es unter den wehrlosen Bewohnern, raubte, vergewaltigte und mordete. Ich hatte mich in der Nähe versteckt. Da tauchte ein Junge bei mir auf. Er berichtete mir voller Stolz, dass er der Knappe des Ritters Friedrich vom Diek zu Heiligenstätten sei.«
»Das muss Gerhard gewesen sein. Von dem hat mein Vater mir erzählt.«
»Richtig. Gerhard war sein Name. Er eilte zu seinem Herrn, und Friedrich kam zu mir. In blitzender Ritterrüstung. Als er erfuhr, was geschehen war, stieg er aufs Pferd und jagte in vollem Galopp in die Siedlung hinunter, mitten hinein in die Horde der Räuber. Schon nach der ersten Attacke lagen sechs von ihnen auf dem Boden. Die anderen griffen ihn an, aber er machte sie alle nieder. Nicht einer kam lebend davon.«
Gödeke Michels blieb stehen. Sie hatten den Waldrand erreicht. Von hier aus stieg das Land an bis hin zu den Dünen, die sie von der Nordsee trennten. Er lachte lautlos. Einige Möwen zogen mit trägem Flügelschlag über den hellen Sand und den mattgrünen Sandhafer dahin.
»Und weiter?«, fragte Hinrik.
|337| »Es war ein unglaublicher Kampf. Ich werde ihn nie vergessen. Euer Vater trug eine kleine Schramme am Bein davon. Das war alles.«
»Und er gab den Bewohnern der Siedlung die Beute zurück?«
»Ja, das machte er«, bestätigte Michels, und seine Augen begannen zu blitzen und zu funkeln. Alles Licht der Sonne schien sich in ihnen zu fangen. »Und dann verschwand er ebenso schnell und überraschend, wie er gekommen war. Und mit ihm ein Drittel der Beute.«
»Er hat ein Drittel der Beute mitgenommen?« Hinrik gefiel ganz und gar nicht, was er da hörte. Das hehre Bild seines Vaters zerbröckelte immer mehr.
»Das habe ich nicht gesagt«, lachte Gödeke Michels. »Ein Drittel fehlte. Mag sein, dass er diesen Anteil für sich einkassiert hat, oder auch nicht. Bewiesen ist gar nichts. Er war ein toller Bursche, Euer Vater.«
Sie schritten energisch aus, bis sie nach einiger Zeit einen weit ins Landesinnere reichenden Wasserarm erreichten. Die Dünen versperrten den Blick aufs Meer hinaus. Daher konnten sie erst jetzt die Schnigge sehen, die unter vollem Segel hereinkam. An ihrem Bug stand der Name MÖWE, und an ihrem Mast flatterte eine weiße Fahne mit einem schwarzen Stierkopf.
»Das ist Störtebeker«, stellte Gödeke Michels zufrieden fest. »Hoffentlich hat er nichts gegen Euch einzuwenden.« Er verzog das Gesicht, als hätte er in einen sauren Apfel gebissen. »Falls doch – nun, Ihr merkt es ja nicht mehr, wenn er Euren Schädel auf die Brücke nagelt.«
Hinrik glaubte ihm nicht, dass er in Gefahr war. Tatsächlich entdeckte er den Schalk in den Augen seines neuen Freundes.
Das Schiff legte an, und mehrere Männer gingen an Land. Sie umringten Gödeke Michels und erzählten aufgeregt |338| von einer erfolgreichen Kaperfahrt, auf der man reiche Beute gemacht hatte. Ihn interessierte aber vor allem, wie das Loch in der Schiffswand zustande gekommen war. Hinrik, der die Männer von einer Kanone reden hörte, ließ das Reh zu Boden gleiten und wartete ab. Die Likedeeler zeigten wenig Interesse an ihm. Es genügte ihnen, dass Michels ihn neben sich duldete. Dieser schickte sie schließlich zur Festung, nicht ohne sie anzuweisen, das Reh mitzunehmen. Danach wandte er sich Hinrik zu.
»Kommt, wir gehen an Bord. Ihr werdet Störtebeker kennenlernen.«
»Verlässt er die Schnigge nicht?«
»Niemals«, erklärte Gödeke Michels. »Seit er die ›Möwe‹ in Wismar betreten und ihr Kommando übernommen hat, ist er nicht mehr an Land gegangen. Da wir unser Geschäft aber aufgeben wollen, wird sich das wohl bald ändern.«
Er schritt voran über dicke Bohlen und führte ihn auf das Achterkastell, wo ein mittelgroßer Mann mit langen dunkelblonden Haaren stand, die er im Nacken mit einer silbernen Spange zusammenhielt. Er wandte ihnen den Rücken zu, die auffallend kleinen Hände leicht in die Hüften gestützt. Er trug dunkle, eng anliegende Hosen und ein graues Wams, das seinen muskulösen Körper locker umschloss und den größten Teil seiner Arme frei ließ.
Hinrik war nervös. Voller Spannung sah er der Begegnung mit diesem Mann entgegen, von dem er schon so viel gehört
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