Der Blutrichter
still.
Enttäuscht setzte sie sich an den Tisch und verzehrte ein wenig von dem Essen, das ihr nun nicht mehr so recht schmecken wollte. Sie fragte sich, warum der Arzt so abweisend war. Sie beschloss, ihn danach zu fragen und ihn zugleich zu bitten, ihr eine andere Unterkunft zu besorgen. Allerdings war sie praktisch mittellos. Mit dem wenigen Geld, das die Freibeuter ihr mitgegeben hatten, konnte sie höchstens ein oder zwei Wochen leben. Danach brauchte sie ein Einkommen, und das umso mehr, als sich |345| der Sommer seinem Ende zuneigte. Über den Herbst und Winter war es sehr schwer, Arbeit zu finden. Schwere Monate standen ihr bevor.
Sie schlief in einer winzigen Kammer direkt neben der Küche. Es roch nach geräuchertem Schinken und Würsten, die in der Vorratskammer hingen. Sie hörte das Geraschel der Mäuse, die im Haus nach verwertbaren Krumen suchten, nun, da sie aufgeräumt hatte, jedoch nur wenig Beute machen konnten.
Jordan Birger kam erst am nächsten Morgen wieder herunter. Mit dunkel umrandeten Augen erschien er in der Küche, ließ sich Tee und etwas Wurst geben.
»Was habt Ihr?«, fragte sie ihn. »Ich würde Euer Haus auf der Stelle verlassen, wenn ich die Möglichkeit dazu hätte. Aber ich könnte Euch auch helfen. Mein Vater war Arzt, und ich habe ihn bei vielen Patientenbesuchen begleitet.«
Er blieb stehen, senkte den Kopf und drehte sich langsam um. Sein Gesicht war grau, und die Lippen waren blutleer. Er sah aus, als könnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. »Wir wollen einen Versuch wagen«, erwiderte er mit tonloser Stimme. »Nachher kommen Patienten. Ihr werdet aber nichts tun.«
Sie fragte sich, weshalb sie unter diesen Umständen dabei sein sollte, verkniff sich jedoch eine Bemerkung.
»Bevor ich es vergesse – ich dulde Euch nur im Erdgeschoss dieses Hauses«, fuhr er sie mit überraschend kräftiger Stimme an. Seine Augen funkelten plötzlich. »Ihr werdet auf keinen Fall nach oben gehen. Wenn Ihr es dennoch tut, könnt Ihr das Weite suchen. Im Übrigen kümmert sich Bene um die Küche.«
»Wer ist Bene?«
»Eine junge Frau aus der Nachbarschaft. Sie hilft im Haushalt aus.«
|346| Greetje dachte daran, wie es in der Küche ausgesehen hatte, hielt aber auch jetzt den Mund. Es stand ihr nicht zu, Benes Arbeit zu bewerten. Immerhin bemerkte Jordan Birger, dass sich etwas geändert hatte. Er blickte kurz in die Runde, nickte zufrieden und meinte: »Nicht ganz so gut wie Ihr.« Dann gab er ihr einen Wink, und sie folgte ihm in den Behandlungsraum, in dem sich bereits einige Patienten eingefunden hatten.
Greetje sah zu, wie er einen Furunkel öffnete, der einen Landarbeiter quälte, den gebrochenen Arm eines Kindes schiente, einem Mann, der an einem unheilbaren Magenleiden litt, Schmerzmittel verabreichte, die Gicht einer Frau linderte und einen Mann von seinen Rückenschmerzen befreite. Als ein Handwerker mit einer ausgekugelten Schulter ankam, benötigte er zum ersten Mal ihre Hilfe. Greetje griff beherzt zu. Als der Patient wieder nach Hause ging, ruhte sein Blick lange auf ihr. Sie begegnete ihm gefasst und gelassen.
»Nicht schlecht«, lobte er. Das war alles. Sie glaubte, das Eis wäre nun geschmolzen. Doch sie irrte sich. Obwohl sie ihm in den folgenden Tagen öfter assistieren durfte, blieb er mürrisch und abweisend. Außerdem machte ihr die zwanzigjährige Bene das Leben schwer. Die junge Nachbarin kam am späten Vormittag ins Haus. Sie war schlank, beinahe dürr und machte von Anfang an keinen Hehl daraus, dass sie Greetje nicht mochte. Offenbar fürchtete sie, durch Greetje die einzige Verdienstquelle zu verlieren, die sie hatte.
Ausgesprochen böse stemmte sie ihre kleinen Fäuste in die Hüften, blickte sich in der Küche um, als wäre alles in heillose Unordnung geraten, schob das Kinn nach vorn und fragte: »Was ist denn hier los?«
»Ich bin Greetje«, antwortete die neue Assistentin des Arztes. »Ich habe ein bisschen aufgeräumt.«
|347| »Das bringt Unheil!«, jammerte Bene und schlug die Hände theatralisch zusammen, als wäre ein großes Unglück geschehen. »Seit Jahren haben die Dinge ihren Platz, und du dumme Kuh bringst alles durcheinander.«
»Von dem Dreck gar nicht zu reden, den ich beseitigt habe.«
»Dreck?« Die braunen Augen Benes funkelten vor Wut und Empörung. »Hier war es so sauber, dass man vom Fußboden essen konnte.«
»Die Mäuse und Ratten konnten es sicherlich«, gab Greetje kühl zurück. »Für sie gab es genügend
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