Der Blutrichter
Geisterte er, von seltsamen Dämonen getrieben, durch das Haus, auf der Suche nach irgendetwas, was ihm seine verwirrten Sinne vorgaukelten?
Es wurde still im Haus. Leise knarrte das Gebälk. Die |350| Stimme des Nachtwächters ertönte, der durch die Gassen zog und den Bürgern mit seinen Rufen zeigte, dass er über sie wachte.
Greetje lag lange wach, bis endlich die Müdigkeit sie übermannte. Schon früh wachte sie wieder auf. Sie ging in die Küche, wusch sich mit kaltem Wasser, um sich frisch zu machen. Während über ihr die Schritte des Arztes hörbar wurden, bereitete sie das Frühstück.
Nach geraumer Zeit kam Jordan Birger herunter. Er war bleich. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und hatten dunkle Ringe. Ohne ein Wort zu sagen, ging er an den Tisch und nahm sich ein Stück Brot und etwas Käse.
Nur um die Stille zu durchbrechen, wollte Greetje fragen, ob er gut geschlafen habe, doch er wandte sich bereits ab und ging in seine Praxis, wo er nervös herumkramte, bis er sie wenig später verließ. Durch einen Spalt in der Tür sah sie ihn die Gasse hinuntereilen, die Tasche mit seinen Instrumenten unter dem Arm. Er ging gebeugt, als würde er eine schwere Last auf seinen Schultern tragen.
Sie widerstand der Versuchung, hinaufzugehen und sich umzusehen, und schon wenig später zeigte sich, dass sie gut daran tat. Während sie das Frühstück wegräumte, stand plötzlich Bene hinter ihr. Lautlos wie ein Schatten war sie hereingekommen. Greetje erschrak, und sie fragte unwillkürlich: »Seit wann bist du schon hier?«
Die junge Frau zuckte mit den Achseln, nahm Brot und Wurst vom Tisch und verzehrte beides so gierig, als wäre sie vollkommen ausgehungert. Da Greetje keine Lust verspürte, sich mit ihr zu unterhalten, verließ sie das Haus.
Ziellos schlenderte Greetje durch die Stadt, blieb hin und wieder stehen, um Handwerker zu beobachten, die ihr Tagewerk auf offener Straße verrichteten, oder sich die Waren an einigen Verkaufsständen anzusehen. Irgendwann kam sie in die Nähe des Hafens, und während es in |351| der Stadt ausgesprochen gemächlich zuging, hatte sich hier Unruhe breitgemacht. Kinder lärmten, und Männer und Frauen eilten zu dem Ende einer Gasse, wo es allem Anschein nach etwas Besonderes zu sehen gab. Unwillkürlich beschleunigte sie ihren Schritt, bis sich ihr völlig unerwartet ein schreckliches Bild bot.
An den Ästen einer Eiche hingen die Leichen dreier Männer. Man hatte ihnen eine Schlinge um den Hals gelegt und sie dann hinaufgezogen. Kolkraben umkreisten den Baum.
Verstört blieb Greetje stehen. Sie fühlte sich abgestoßen, und ihr missfiel die Neugier der Menschen. Ihr war unangenehm kalt, und sie hatte das Gefühl, als hätte der Tod seine Hand auf ihren Rücken gelegt.
»Das Femegericht hat sie geholt«, sagte ein älterer Mann in ihrer Nähe zu einem anderen. »Sie wollten sich nicht zum christlichen Glauben bekehren lassen und haben den Götzen geopfert. Das haben sie jetzt davon.«
Wie benommen ging Greetje weiter. Allein die Erwähnung des Femegerichts jagte ihr einen Schrecken ein. Die Macht der heimlichen Femegerichte war ungebrochen, zumal sich diese Gerichte nicht nur mit Vergehen gegen den christlichen Glauben befassten, sondern in zunehmendem Maße auch andere Verbrechen ahndeten. Wollte man den Gerüchten glauben, gab es in den Ländern zwischen dem Niederrhein, der Elbe und der Nordsee annähernd fünfzig solcher Gerichte, deren Oberaufsicht der Erzbischof von Köln hatte. Er war zugleich Herzog von Westfalen und kaiserlicher Statthalter.
In erster Linie befassten sich die Femegerichte mit Verstößen gegen die Zehn Gebote des Christentums, also Diebstahl, Raub, Plünderungen, Kirchenschändung, Mord und Totschlag, Gotteslästerungen, Verrat und ähnlichen Vergehen.
|352| Greetje schreckte aus ihren Gedanken auf, als sie plötzlich mit anderen Menschen vor einer Eiche stand und einen Blick auf deren mächtige Wurzeln werfen konnte, die sich wie runzelige, wuchernde Adern nach allen Seiten hin ausstreckten. Dazwischen lagen zwei Messer, die ein Kreuz bildeten.
Sie bekam Gänsehaut. Dieses Zeichen war ihr bekannt. Nur zu gut erinnerte sie sich daran, wie sie in Itzehoe einmal von einem Einkauf nach Hause gekommen war. Sie hatte Stimmen gehört. Ein Besucher war bei ihrem Vater, verließ das Haus jedoch genau in diesem Moment, so dass sie nicht erfuhr, wer es war. Sie ging zu ihrem Vater, der am Tisch saß, auf dem zwei Messer lagen. Sie bildeten ein
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