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Der Blutrichter

Der Blutrichter

Titel: Der Blutrichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans G. Stelling
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Gedanken.
    Als sie die Kammer betrat, sah sie Julia und Marie weinend in einer Ecke des Raumes kauern. Sie wussten bereits Bescheid. Die Unruhe im Haus hatte sie aufmerksam gemacht. Sie hatten die Tür geöffnet und durch einen Spalt nach unten gespäht. Dabei hatten sie gesehen, wie Bene und sie den Toten in die Praxis trugen.
    Greetje blieb bis zum späten Nachmittag bei ihnen, um sie zu trösten.
    »Du musst Bene entlassen«, forderte Julia, nachdem sie sich ein wenig erholt hatte.
    »Das kann ich nicht«, antwortete Greetje. »Sie sorgt für ihre ganze Familie. Was soll aus ihr werden, wenn sie nichts mehr verdient?«
    »Wir haben Angst vor ihr«, klagte Marie. »Sie ist furchtbar dumm, und deshalb ist sie gefährlich. Es ist schlimm für sie, wenn sie kein Geld mehr bei uns verdient, aber es wäre noch viel schlimmer, wenn sie uns eines Tages sieht und uns verrät.«
    »Ihr müsst darauf achten, dass die Tür immer verriegelt ist«, betonte Greetje. »Ihr müsst sie von innen sichern, und ihr dürft sie nur für mich öffnen. Ganz egal, was geschieht. Solange die Tür verschlossen ist, kann Bene kein Unheil anrichten.«
    Kaum war Greetje vom Schreiner zurückgekehrt, als Bene mit einem ihrer Brüder erschien und ihr einen Schrecken einjagte.
    »Ich habe nachgedacht«, eröffnete das Hausmädchen ihre Rede. »Dabei ist mir eingefallen, dass Doktor Birger mir vor etwa einem Jahr versprochen hat, dass ich sein Haus und sein ganzes Vermögen erbe, wenn er einmal stirbt. Das hat er getan, weil er keine Verwandten und vor allem keine Kinder hat.«
    |409| Greetje verschlug es die Sprache. Sie wusste genau, dass Birger ein solches Versprechen niemals abgegeben hatte, denn damit hätte er das Schicksal seiner Kinder in Benes Hände gelegt. Das war vollkommen ausgeschlossen.
    »Wir reden morgen darüber«, erwiderte Greetje fassungslos. »Am besten warten wir, bis die Beerdigung vorbei ist. Haus und Vermögen laufen dir ja nicht weg.«
    »Aber du könntest mit seinem ganzen Geld verschwinden!« Benes Augen funkelten, als wollte sie sagen: »Dass ich dir auf die Schliche komme, damit hast du wohl nicht gerechnet, wie?«
    »Es reicht!« Empört sprang Greetje auf und drängte Bene und ihren Bruder zur Tür. »Hinaus!« Sie trat so energisch auf, dass die beiden eingeschüchtert das Haus verließen.
    Am nächsten Tag kamen ganze Scharen von Menschen, um von Jordan Birger Abschied zu nehmen. Greetje saß die ganze Zeit über neben dem offenen Sarg. Viele der Leute kannte sie von den gemeinsamen Besuchen mit dem Arzt, und es tat ihr gut, dass nicht wenige von ihnen sie baten, seine Nachfolge anzutreten. Der Andrang war so groß, dass die Leute bis zur Straße hinaus standen und warteten. Erst gegen Abend wurde es ruhiger. Als Letzter kam der Priester, der Greetje fragte, ob sie besondere Wünsche für die Predigt habe. Sie wunderte sich darüber, dass er Rücksicht auf sie nehmen wollte. Sie dankte ihm dafür und legte alles in seine Hände. Er hatte Jordan Birger bedeutend länger gekannt als sie.
    Drei Tage nach seinem Tod wurde der Arzt bestattet, und die halbe Stadt gab ihm das letzte Geleit. Greetje hatte nicht gewusst, dass er trotz seines mürrischen und oft abweisenden Wesens so beliebt gewesen war.
    Als der Priester seine Predigt beendet hatte, wandte er sich direkt an Greetje.
    |410| »Schon vor einigen Wochen hat Jordan Birger mir aufgetragen, Euch an dieser Stelle eine Bitte zu überbringen«, sagte er. »Er möchte, dass Ihr seine Praxis weiterführt. Damit Ihr dazu in der Lage seid, übereignet er Euch sein Haus und sein ganzes Vermögen. Er war sich sicher, dass Ihr wisst, was Ihr zu tun habt und was Eure Verantwortung ist.«
    Damit hatte Greetje nicht gerechnet. Sie war überrascht und konnte ihre Gefühle kaum beherrschen. Eines aber war ihr absolut klar: Jordan Birger war es weder um seine Praxis noch um sein Haus oder sein Vermögen gegangen, sondern einzig und allein um Marie und Julia. Seine Töchter wollte er versorgt wissen. Er hatte gewusst, dass deren Überleben nur gesichert war, wenn er ihr Schicksal in Greetjes Hände legte.
    »Werdet Ihr den letzten Wunsch Jordan Birgers erfüllen?«, fragte der Priester.
    »Ja«, antwortete sie mit fester Stimme. Jetzt war sie froh, dass sie ihrer Neugier nachgegeben hatte, die Treppe hinaufgestiegen war und dabei die Zwillinge entdeckt hatte. Gott hatte diese Lösung gewollt und sie geführt. Greetje wagte nicht sich auszumalen, was unter anderen Umständen nach

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