Der Blutrichter
herbei. Greetje beschleunigte ihren Schritt.
Als sie um die letzte Biegung der Gasse bog, die zum Birgerhaus führte, blieb sie entsetzt stehen. Ihr bot sich ein so schrecklicher Anblick, dass ihr die Beine versagten. Sie wünschte sich, eine gnädige Ohnmacht würde sie erlösen, doch sie hielt sich auf den Knien und starrte mit geweiteten Augen auf das Unfassbare.
Irgendjemand hatte Marie und Julia entdeckt, und es war zu dem befürchteten Aufruhr gekommen. Während sie selbst ausgelassen durch die Gassen geschlendert war, um einzukaufen, hatte eine Meute die unglücklichen Zwillinge aus dem Haus geschleppt und an einem rasch errichteten Galgen erhängt.
»Nein«, stammelte Greetje unter Tränen und in höchster Verzweiflung. »Was habt ihr getan! Ihr Teufel, was habt ihr getan?«
Eine junge Frau drängte sich durch die Menge zu ihr hin. Triumphierend baute sie sich vor ihr auf und zeigte mit ausgestreckter Hand auf sie.
»Das ist sie, die Hexe! Sie hat dieses Monster direkt aus dem Vorhof der Hölle in das Haus von Jordan Birger geholt. Als er ihr auf die Schliche kam, hat sie den Arzt ermordet, um dieses Monster aufziehen und auf uns hetzen zu können! Sie ist eine Hexe! Hängt sie zu dem Monster an den Galgen! Hängt sie!« Ihre Stimme wurde immer lauter und schriller und überschlug sich fast.
»Nein, nein, das ist nicht wahr«, schluchzte Greetje. »Das stimmt nicht. Jordan Birger hat seine Töchter geliebt, und er hat mich gebeten . . .«
|414| Weiter kam sie nicht. Mehrere Männer stürzten sich auf sie und schleppten sie zum Galgen. Sie hatte nicht die Kraft, sich zu wehren. Sie sah die unglücklichen Zwillinge, und in ihrer Trauer und ihrem Entsetzen weinte sie, so dass sie beinahe blind wurde vor Tränen. Sie fürchtete sich nicht vor dem, was nun kommen musste. Alle ihre Empfindungen galten Marie und Julia, die aus der Geborgenheit ihrer Kammer herausgerissen und zum Galgen geschleppt worden waren. Diese liebenswerten jungen Frauen waren den sensationsgierigen Gaffern ausgesetzt gewesen und hatten sich vermutlich fürchterliche Scheußlichkeiten anhören müssen, bis der Tod sie erlöste.
»Hängt die Hexe auf!«, schrie Bene in höchsten Tönen. »Hängt sie auf, bevor sie die Kraft findet, uns alle zu verhexen. Sie ist des Teufels, und zu ihm soll sie zurückkehren!«
Die Schlinge eines Seils fiel Greetje um den Hals.
»Zieht sie hoch!«, forderte die Menge. »Zieht sie endlich hoch. Sie soll neben ihrem Monster hängen!«
In ihrer Not begann Greetje zu beten. Einer der Männer hörte sie. Er schlug ihr mit der Faust auf den Mund. Doch sie betete unverdrossen weiter, um sich auf das unvermeidliche Ende vorzubereiten. Nun war geschehen, wovor Jordan Birger sich immer gefürchtet hatte. Eine ungebildete und unwissende Menschenmenge stellte keine Fragen, sondern ließ sich aufhetzen, ergab sich ihren Ängsten und befreite sich von ihnen, indem sie tötete, was sie nicht kannte. Eine fehlgeleitete Kirche predigte den Menschen nicht Nächstenliebe und Verständnis, sondern Furcht vor der Hölle und der ewigen Verdammnis, falls sie sich nicht ihren Gesetzen beugten. Sie vermittelte ihnen nicht Wissen und Aufklärung, sondern ließ sie in ihrem dumpfen Unwissen verharren, weil sie so leichter zu lenken waren.
»Im Namen Jesu Christi, worauf wartet ihr?« rief Bene.
|415| Greetje war es, als würde sie von einem Blitz getroffen. Sie empfand es als Ungeheuerlichkeit, dass diese junge Frau es wagte, den Namen des Gottessohnes in den Mund zu nehmen, um im gleichen Atemzug den Verstoß gegen die Gebote Gottes zu verlangen.
Mit einer überraschenden Kraftaufwendung schüttelte sie die Hände der Männer ab, die sie hielten.
»Ihr Heuchler sollt verdammt sein!«
Sie stießen sie zu Boden, und dann zog einer an dem Strick. Die Schlinge schnürte sich um ihren Hals und nahm ihr den Atem. Im diesem Moment wurde es seltsam still. Greetje hatte das Gefühl, von jeder Erdenschwere befreit zu werden. Sie sah die Gesichter der Menschen um sich herum, doch sie schienen einer anderen Welt anzugehören oder einem Traum zu entstammen. Sie sah, dass die Männer und Frauen ihren Mund aufrissen und schrien, aber sie vernahm keinen Laut.
Plötzlich blitzten Schwerter im Licht der Sonne. Die Schlinge an ihrem Hals löste sich, so dass sie wieder atmen konnte, und jetzt hörte sie die Menschen schreien. Sie sah sie auseinanderlaufen, und dann beugte sich ein Gesicht über sie, von dem sie in ihrer grenzenlosen Liebe
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