Der Blutrichter
erkannte Hinrik nicht. Etwas anderes war nicht zu erwarten. Für von Cronen waren alle Arbeiter im Hafen minderwertige Geschöpfe, einzig und allein dazu da, sich für ihn abzumühen und seinen Reichtum |151| zu mehren. Es lohnte nicht, sich mit ihnen zu befassen.
Als Hinrik an einem Spätsommertag dabei war, ein kleines Schiff zu löschen, das die Alster heruntergekommen war, tauchte Fieten Krai auf. Der Gaukler zupfte an seinem Saiteninstrument und wollte offensichtlich eines seiner Lieder vortragen, kam jedoch nicht dazu, weil ihm der Hafenmeister in die Parade fuhr.
»Ihr stört den Betrieb«, wies er ihn zurecht. »Geht am Abend ins Wirtshaus. Da können Euch die Leute von mir aus zuhören. Hier kann ich Euch nicht gebrauchen.«
Krai hob beschwichtigend beide Arme. »Schon gut, schon gut«, erwiderte er.
Hinrik bemerkte, dass er zu ihm herüberblickte. Da er den letzten Sack Korn aus dem Schiff gehievt und an Land abgesetzt hatte, stieg er aus dem Kran.
»Euch kenne ich«, sinnierte der Gaukler. Er trug seine bunt bestickte Ledermütze und sah ein wenig schmaler aus als sonst. Doch seine Mundwinkel waren nach wie vor weit nach oben gezogen. Er schien ständig zu lächeln. »Ach ja, wir haben mal ein Bier zusammen getrunken. Im ›Krug zu den vier Eichen‹.«
»Ihr habt ein bemerkenswert gutes Gedächtnis«, lobte Hinrik ihn. »Und ein gutes Auge.«
Der Gaukler legte den Kopf schräg, seine Augen wurden eng.
»Damals hattet Ihr keinen Bart, und Euer Haar war kürzer. Und warum zieht Ihr Eure Wollmütze so tief in die Stirn? Ist Euch kalt oder wollt Ihr etwas verbergen?«
Hinrik erschrak. Unbehagen erfüllte ihn, weil er nicht wusste, ob von Fieten Krai eine Gefahr für ihn ausging. Einen Grund, ihm zu vertrauen, hatte er jedenfalls nicht. Dafür kannten sie sich zu wenig.
»Es geht weiter«, mischte sich der Hafenmeister ein |152| und machte ihn auf einen Ochsenkarren aufmerksam, der Bierfässer heranbrachte. »An die Arbeit.«
»Vielleicht sehen wir uns bei einem Bier«, sagte Hinrik zu dem Gaukler und kehrte in seinen Kran zurück. Nicht ganz eine halbe Stunde später sah er Fieten Krai erneut. Dieses Mal stand der Gaukler bei Wilham von Cronen und dessen Sohn, der selten einmal am Hafen auftauchte. Christoph war Mitte zwanzig und sah seinem Vater überhaupt nicht ähnlich. Er war klein, beinahe zierlich und affektiert. Wie ein Geck gekleidet, wedelte er mit einem Spitzentaschentuch vor seiner Nase herum, wenn er mit jemandem sprach. Hinrik war zu Ohren gekommen, Christoph wäre ein Weiberheld. Ihn wunderte, dass sich Frauen für einen Mann wie ihn interessierten, zumal er einen Holzfuß hatte, was einen so eitlen Mann wie ihn ganz sicher schmerzte. Mit siebzehn Jahren hatte er den rechten Fuß bei einem Unfall verloren. Den Holzstumpf versuchte er mit einer sehr langen Hose zu kaschieren. Allerdings war seine Hose deshalb am Saum ständig schmutzig, was umso mehr auffiel, als er sonst sehr gepflegt und sauber war.
Hinrik beachtete von Cronens Sohn kaum. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Fieten Krai und dem Ratsherrn, zumal er gesehen hatte, dass der Gaukler in seine Richtung zeigte. Er war alarmiert. Einem ersten Impuls folgend wollte er aufspringen, den Kran verlassen und flüchten. Ein Schrei ließ ihn auffahren. Erschrocken stellte er fest, dass es auf dem Schiff beinahe zu einem Unglücksfall gekommen wäre. Er musste sich seiner Arbeit zuwenden. Hinrik verdrängte den Gedanken an Wilham von Cronen, bis zwei Landsknechte neben dem Kran erschienen. Sie trugen an ihren Gewändern die Insignien der Stadt und waren mit kurzen Schwertern und Lanzen bewaffnet.
Fest schlossen sich seine Hände um den Hebel, mit dem |153| er den Kran steuerte. Gleich würde sich die Tür hinter ihm öffnen, und die beiden Ordnungshüter würden ihn abführen. Doch er irrte sich. Einer von ihnen blickte durch eine Luke zu ihm herein.
»Tut mir leid, dass ich die Arbeit unterbreche«, sagte einer der beiden, »aber ich muss einen deiner Männer mitnehmen. Sieh zu, dass du einen Ersatz bekommst.«
Hinrik ließ sich nichts anmerken. Er nickte und sah zu, wie die beiden Landsknechte den alten weißhaarigen Mann zwischen sich nahmen und mit ihm verschwanden. Er atmete auf. Fieten Krai hatte von Cronen nicht auf ihn, sondern auf den Alten aufmerksam gemacht.
Wie hätte es anders sein können!, schalt er sich. Der Gaukler weiß nichts von dir und von dem Vorfall auf dem Hof des Grafen.
Er beruhigte sich rasch und setzte
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