Der Blutrichter
und schlenderte durch die Gassen auf der Suche nach einem Gasthaus. Er wurde rasch wieder munter, als er Hans Barg bemerkte, der aus einem der Steinhäuser an der Alster trat, die von den wohlhabenden Hanseaten bewohnt wurden. In der einsetzenden Dämmerung folgte er ihm, ohne dafür einen besonderen Grund zu haben, verlor ihn jedoch rasch wieder aus den Augen. Sein Weg führte ihn in die Nähe des Ringwalls, wo das Haus Wilham von Cronens stand. Es war auf einer kleinen Anhöhe errichtet, von wo aus man einen weiten Blick über die Alster und die Stadt Hamburg hatte. Das akkurat gesetzte Fachwerk, ein kunstvoll golden geschriebener Spruch in lateinischer Sprache, die Türen und Fenster mit Butzenscheiben zeugten vom Reichtum seines Besitzers.
Hinter einem Baum blieb Hinrik stehen und blickte zu dem Haus hinüber. In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Greetje kam mit einem Korb über dem Arm heraus. Jetzt war die Müdigkeit vollkommen verflogen. Ein eigenartiges Kribbeln durchfuhr seinen ganzen Körper. Seine Brust zog sich schmerzhaft zusammen.
Er fragte sich, was die Tochter des Arztes in von Cronens Haus geführt hatte und ob sie dem Ratsherrn und Richter womöglich von ihrer Begegnung am Hafen erzählt hatte, vielleicht ohne zu ahnen, wie gefährlich eine solche Mitteilung für ihn war. Das Mädchen eilte in Richtung der Kapitänshäuser davon, die sich am Alsterufer aneinanderreihten. Die Dämmerung war längst hereingebrochen, und es fiel Hinrik immer schwerer, sie im Blick zu behalten, ohne sich bemerkbar zu machen. Dennoch eilte er weiter hinter Greetje her. Er konnte sie nicht mehr sehen, doch hier gab es nur eine Gasse. Als ein paar betrunkene Männer aus einem Wirtshaus traten, fiel Licht auf die |163| Gasse, und Hinrik entdeckte Greetje, die gerade in Richtung Hafen abbog. Er beschleunigte seinen Schritt und vernahm plötzlich erstickte Schreie. In der Dunkelheit machte er mehrere Gestalten aus, die miteinander rangen.
»Auseinander!«, rief er und stürzte sich auf die Gruppe. Er hatte es mit zwei Männern zu tun, die Greetje bedrängten. Einer von ihnen hielt ihr den Mund zu. Sie setzte sich heftig zur Wehr. Doch nun ließ er sie los und stieß sie zur Seite. Hinrik sah, dass die beiden Männer ihre Messer zückten. Er zögerte keine Sekunde. In zahllosen Stunden hatte er Kämpfe wie diese geübt. Er wusste genau, was zu tun war. Seine Schläge kamen schnell, hart und gezielt. Dazu trat er mit den Füßen gegen die Beine seiner Gegner und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Bevor sie wussten, wie ihnen geschah, rammte er ihnen seine Faust ans Kinn, und sie brachen bewusstlos zusammen.
»Los, weg hier«, sagte er zu der jungen Frau, ergriff ihre Hand und ließ die beiden Übeltäter rasch hinter sich.
»Hinrik vom Diek«, staunte sie. Als sie endlich stehenblieben, horchte er in die Nacht hinaus, um sich davon zu überzeugen, dass sie nicht verfolgt wurden. »Der Ritter kann noch immer kämpfen.«
»Sollte ich zusehen und die beiden Männer gewähren lassen?«
»Dann hätte ich Euch die Augen ausgekratzt.«
»Das glaube ich Euch ohne weiteres«, lachte er. »Ich entsinne mich recht gut an Itzehoe.«
»Vergesst es«, bat sie ihn und schenkte ihm ein herzliches Lächeln. Sie hakte sich bei ihm ein. »Ich danke Euch, dass Ihr mir geholfen habt.«
»Wieso wart Ihr bei von Cronen?«, fragte er. »Weiß er nicht, dass es gefährlich ist, wenn Ihr zu so später Stunde allein durch die Gassen geht?«
|164| »Seine Frau Margareta ist krank«, antwortete sie. »Sehr krank. Ich habe ihr Medizin gebracht, die ihr helfen wird. Einen Tee, den mein Vater zusammengestellt hat.«
Sie schwiegen, bis sie das Haus des Arztes erreichten. Licht schimmerte durch die halb geschlossenen Läden. Aus der Dunkelheit tauchte ein dicker Mann auf. Er blieb vor den Fenstern stehen, so dass sie ihn sehen konnten. Er kleidete sich nach der neuesten Mode, die hautenge Hosen mit gelben und schwarzen Streifen verlangte. Sein Alter war schwer zu schätzen. Hinrik vermutete, dass er um die Vierzig war.
Mit ausgestreckten Armen kam der Mann auf Greetje zu, ohne Hinrik zu beachten. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht, meine Liebe«, rief er mit dänischem Akzent. Obwohl es nicht sehr warm war, standen ihm Schweißperlen auf der hohen Stirn. Hinrik fiel auf, dass er das rechte Bein nachzog und hinkte. »Wo bleibt Ihr denn so lange?«
Er legte ihr einen Arm um die Schulter und führte sie so energisch ins Haus, dass ihr kaum
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