Der Blutrichter
und im Haus blieb, um ihm nicht zu begegnen. Vielleicht war sie krank und bettlägerig, oder es war ihr verboten, das Haus zu verlassen. Er malte sich alle möglichen Varianten aus, und eine machte ihn unglücklicher als die nächste.
Er fragte Händler und Patienten nach ihr, erhielt jedoch von niemandem eine befriedigende Auskunft. Seine Enttäuschung wuchs. Niedergeschlagen ging er eines Abends vom Haus des Arztes zum »Goldenen Anker«. Als er das Wirtshaus betrat, trug Fieten Krai gerade noch ein Lied vor, in dem er Ereignisse auf See geschildert hatte.
... so rauscht und kracht es auf das Holz,
vorbei ist’s mit des Reeders Stolz,
die »Hohe Tide« schifft übers Meer,
die Laderäume sind nun leer.
Störtebeker und seine Mannen
ziehen lachend gleich von dannen,
verhöhnen die hansischen Heere,
sie sind es – die Herren der Meere!
Der Gaukler nahm den Beifall dankend entgegen und ging dann durch das Lokal, um seinen Lohn einzusammeln. Dabei verneigte er sich immer wieder und hatte für jeden Spender einen kleinen Scherz auf der Lippe.
Hinrik setzte sich an einen freien Tisch, bestellte Brot und Wurst, wie an jedem Abend, und wartete darauf, dass Fieten Krai zu ihm kam. Er bot ihm einen Platz und ein Bier an. Ächzend ließ der Gaukler sich auf einen Hocker |168| sinken und legte sein Saiteninstrument vorsichtig auf einen Hocker neben sich.
»Habe ich richtig gehört?«, fragte Hinrik. »Habt Ihr von der ›Hohen Tide‹ gesungen?«
»Genau das«, bestätigte Fieten Krai. Er beugte sich vor und blickte sein Gegenüber forschend an. »Wieso interessiert Euch das Schiff?«
»Ist es gekapert worden?«
»Und ob! Ganz dicht unter den nordfriesischen Inseln hat Störtebeker die ›Hohe Tide‹ angegriffen, die Mannschaft überwältigt und die gesamte Ladung an sich gebracht. Dabei ist er in diesem Gebiet noch niemals zuvor gesichtet worden. Es ist ein Rätsel, wie er die ›Hohe Tide‹ entdeckt hat, die so weit abseits der üblichen Routen gesegelt ist.« Grinsend nahm er den Bierkrug entgegen, den der Wirt ihm reichte, um ihn auf einen Zug bis zur Hälfte zu leeren. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schaum von den Lippen. »Warum fragt Ihr?«
»Nur so«, erwiderte Hinrik ausweichend. »Ich habe die ›Hohe Tide‹ beladen. Da interessiert es mich natürlich, was aus dem Schiff wird. Und aus seiner Besatzung. Was ist mit ihr? Hat Störtebeker sie umgebracht?«
»Nein, nein«, beschwichtigte der Gaukler ihn. »In diesem Fall hat er sie verschont. Hatte wohl seinen großzügigen Tag. Oder er brauchte jemanden, der den Pfeffersäcken in Hamburg sagt: Auch auf dieser Route sind eure Schiffe in Gefahr.« Er lachte, als hätte er einen Witz gemacht.
Da er Fieten Krai nicht über den Weg traute, verschwieg Hinrik das Gespräch, das er von seinem Boot aus belauscht hatte. Er wusste nicht, wie er diesen Mann einordnen sollte. Immerhin hatte er beobachtet, dass er recht vertraulich mit Wilham von Cronen geredet hatte. Beachtenswert. Er, ein Mann, der das Volk mit seinen Späßen |169| unterhielt und dabei ganz sicher keine Reichtümer erwarb, und ein Mann, der Geld, Macht und Einfluss besaß und einer ganz anderen Gesellschaftsschicht angehörte und zu den so genannten »Pfeffersäcken« zählte. Hinrik hätte viel darum gegeben, wenn er gewusst hätte, was diese beiden Männer miteinander verband, die unterschiedlicher nicht hätten sein können.
Sie wird den Kurs an den nordfriesischen Inseln vorbei nehmen!
Das waren die Worte, die er vernommen hatte. Jetzt wusste er, was sie zu bedeuten hatten. Jemand hatte einem Verbindungsmann detaillierte Angaben über den Kurs der »Hohe Tide« gemacht, damit dieser die Information an die Piraten weitergeben konnte. Dadurch hatten die Likedeeler erfahren, wo sie sich auf die Lauer legen mussten, um die Kogge kapern zu können.
Er trank sein Bier aus, und da der Krug des Gauklers leer war, lud er ihn zu einem weiteren Bier ein. Fieten Krai nahm breit grinsend an.
»Wenn es ums Saufen geht, ist mir jede Spende willkommen«, sagte er. Wenig später wollte er auf die »Hohe Tide« zurückkommen, doch Hinrik ging nicht darauf ein. Er tat, als würde ihn das Thema nicht weiter interessieren.
In Wirklichkeit aber ließ es ihn nicht mehr los. Immer wieder kam es ihm in den Sinn und warf Fragen auf. Er musste jemanden finden, mit dem er darüber reden konnte.
Einige Tage später ergab sich im Hafen eine ungewöhnliche Situation. Alle Schiffe waren beladen, und
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