Der Blutrichter
hat. Als er wieder zu sich kam, hat man ihm einen gefälschten Vertrag vorgelegt, in dem steht, dass er Haus und Hof verspielt hat. Aber das hat er nicht. Er hat seine Besitztümer auch nicht verschenkt. Sie sind ihm gestohlen worden.«
»Wer will das so genau wissen?« Zitternd krallte sie sich an ihrem Rock fest. Die Worte hatten sie mitten ins Herz getroffen. Wie hatte sie nur an Hinrik zweifeln können!
»Die Bediensteten des Grafen haben es ausgeplaudert«, eröffnete er ihr.
»Sein Hof ist abgebrannt. Zwei Männer sind gestorben.«
»Richtig«, bestätigte er. »Die Männer und Frauen, die für Hinrik gearbeitet haben, waren dabei. Sie erzählen jedem in Itzehoe, dass er unter Einsatz seines Lebens versucht hat, die beiden Männer zu retten, die betrunken waren und durch Leichtsinn und Unachtsamkeit das Feuer selbst gelegt hatten. Hinrik vom Diek ist ein unglaublicher Mann. Er hat alles andere verdient als das Ende, das von Cronen für ihn vorgesehen hat.«
»Dann ist Hinrik vollkommen unschuldig?«
»Es ist nie jemand geköpft worden, der unschuldiger
|255| war als er! Was von Cronen macht, ist Mord. Er will Hinrik aus dem Weg räumen.«
Greetje sprang auf. »Wir müssen etwas tun. Wir müssen Hinrik helfen. Wir dürfen nicht zulassen, dass von Cronen mit diesem scheußlichen Plan durchkommt.«
Fieten Krai schüttelte resigniert den Kopf.
»Ich überlege schon die ganze Zeit, aber mir fällt nichts ein. Es gibt keine Möglichkeit, zu Hinrik in den Kerker zu gelangen. Das lässt von Cronen nicht zu. Und ein Einspruch gegen das Urteil ist nicht möglich. Die anderen Richter mischen sich nicht ein. Richter Karsten Bartholomaeus war der letzte, der es versucht hat. Sein Ende ist bekannt. Immerhin hat sein seltsames Ableben die anderen Richter so beeindruckt, dass sie nichts mehr gegen Wilham von Cronen unternehmen. Er ist zum uneingeschränkten Herrscher des Gerichts geworden.«
»Und Ihr meint, er will Bürgermeister werden?«
»Das ist der nächste Schritt. Glaubt Ihr, er lässt sich durch uns aufhalten? Ganz sicher nicht. Wir müssen uns damit abfinden, dass Hinrik verloren ist.«
Letztendlich gewinnen die Ratten! Der Gedanke wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Hinrik vom Diek sah sich außer Stande, irgendetwas zu essen. Also schob er die Brotkrumen mit dem Fuß zur Seite und sah zu, wie die Nager sich daran gütlich taten.
Einer der anderen Männer kroch auf ihn zu. Er bewegte sich langsam, weil die Ketten an seinen Füßen ihn behinderten. Mit wütender Handbewegung verscheuchte er die Ratten, um dann hastig in sich hineinzuschlingen, was sie übrig gelassen hatten.
»Ich hoffe, du hattest nichts dagegen«, sagte die erbarmungswürdige Gestalt, nachdem sie alles verzehrt hatte.
|256| »Natürlich nicht«, erwiderte Hinrik, aber er empfand das Verhalten des anderen als ekelhaft. Um keinen Preis der Welt hätte er angerührt, woran zuvor die Ratten genagt hatten.
Der Mann setzte sich ihm gegenüber. Er war alt. Sein Haar, das alle Farbe verloren hatte, reichte ihm, verklebt und verschmutzt, bis auf die Schultern herab. Der Bart bedeckte das Kinn und darüber hinaus die halbe Brust. Die Augen lagen tief in den Höhlen, waren kaum mehr als schwarze Schatten.
»Du bist Hinrik vom Diek? Ist das wirklich wahr?«
»Der bin ich«, bestätigte der Ritter.
»Es ist kaum zu glauben. Ich habe deinen Vater gekannt. Friedrich vom Diek zu Heiligenstätten.« Er kicherte leise. »Er hätte ein ähnliches Schicksal verdient wie du.«
Hinrik horchte auf. Er musste an die Schmähungen denken, denen er als Junge in seiner Heimatstadt an der Störschleife ausgesetzt gewesen war und gegen die er sich stets mit aller Kraft gewehrt hatte. Damals hatte er nie nachgefragt. In seinem Vater hatte er immer den edlen, untadeligen Ritter gesehen, dessen Bild auch nach seinem gewaltsamen Tod keinen Kratzer abbekommen hatte. Er wusste denkbar wenig über seinen Vater, und er hatte in keiner Phase seines Lebens und seiner Entwicklung den Wunsch gehabt, mehr zu erfahren. Vielleicht hatte er tief in seinem Inneren geahnt, dass bei intensiver Nachforschung Dinge an die Oberfläche hätten gespült werden können, von denen er gar nichts wissen wollte.
Jetzt aber hatte er nicht einmal mehr zwei Tage zu leben. Der Henker wartete auf ihn, und es gab keinen Ausweg mehr. Den sicheren Tod vor Augen, stellten sich ihm Fragen, die er sonst ignoriert hätte.
»Mein Vater war ein Ehrenmann«, betonte er.
»Nach außen hin, ja,
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