Der Blutrichter
schmalen Pfad entdeckte, der exakt so aussah, wie Hinrik ihn ihr vor Wochen bei einem ihrer Gespräche beschrieben hatte. Sie stieg aus dem Sattel, nahm die Zügel und führte das Pferd in den Wald hinein. Es dauerte nicht lange, bis sie eine kleine, versteckt liegende Kate ausmachte, über deren Schornstein sich Rauch kräuselte. Sie blieb stehen.
»Spööntje!« Mit lauter Stimme machte sie auf sich aufmerksam, während sie sich der Kate näherte. »Bist du zu Hause?«
Sie brauchte nicht lange zu warten. Die Tür öffnete sich, und eine alte Frau trat heraus. Die Heilerin stützte sich auf einen knorrigen Stock.
»Was willst du von mir?«, fragte sie, wobei sie ihren Stock ärgerlich auf den Boden stieß, als sei sie mitten in einer wichtigen Arbeit gestört worden.
»Ich komme wegen Hinrik vom Diek«, erläuterte sie.
»Ist er in Schwierigkeiten? Das wäre nichts Neues.«
»Er war bei dir, um sich eine Rezeptur erklären zu lassen, die ich ihm gegeben habe. Das ist einige Tage her.«
»Eine Rezeptur dafür, jemanden langsam, aber sicher umzubringen!«, schnaubte die Alte. »So etwas bekommst du nicht bei mir.«
»Ich bin nicht hier, weil ich eine Rezeptur will, Spööntje, sondern weil Hinrik in höchster Gefahr ist. Von Cronen will ihn hinrichten lassen. Schon übermorgen.« Jetzt richtete sich die Alte ein wenig auf, und ihre Augen erwärmten sie mit einem freundlichen Glanz. Mit dem Stock zeigte sich auf einen Baum und befahl ihrer Besucherin, das Pferd anzubinden. Als Greetje dieser Aufforderung |263| nachgekommen war und dem Pferd einen Eimer Wasser aus dem Brunnen gebracht hatte, sagte Spööntje: »Herein in die gute Stube – Mädchen!«
»Es ist wirklich eilig, Spööntje. Ich muss dringend mit dem Knecht sprechen, der bei Hinrik auf dem Hof gearbeitet hat und der dabei war, als die Häuser in Flammen aufgingen und Hinrik versucht hat, die beiden Wachmänner zu retten. Sein Leben hängt davon ab.«
»Was ist passiert?«, fragte die Heilerin. Sie setzte Greetje einen Saft aus verschiedenen Waldfrüchten vor.
»Es würde zu lange dauern, dir das alles zu erzählen. Können wir nicht gleich zu dem Knecht gehen?«
»Ob es lange dauert oder nicht, liegt an dir. Also?« Spööntje war uneinsichtig, und die junge Frau gab nach. Sie erzählte, bis die Heilerin alles wusste.
»Ich habe es geahnt, als er nach Hamburg ging«, meinte die Alte. Sie schlurfte zum Feuer, das im Kamin brannte, und stocherte mit ihrem Stock darin herum, dass die Funken stoben. »Es ist gefährlich, Wilham von Cronen zu nahe zu kommen.«
»Es gibt eine Möglichkeit, Hinrik zu retten«, bedrängte Greetje die alte Frau. »Dazu muss ich mit dem Knecht sprechen, der dabei war, als der Hof abbrannte.«
»Ich weiß nicht, wo er ist«, erwiderte Spööntje. Sie drehte sich um und blickte ihre Besucherin an. In ihren Augen brannte ein beinahe jugendliches Feuer. Es schien, als wären ihr die Funken aus dem Kamin direkt in die Augen gesprungen und hätten sie mit neuem Leben erfüllt. »In Itzehoe werden wir nach ihm fragen. Vielleicht haben wir Glück.« Sie stieß die Tür auf, streckte die Nase hinaus und schüttelte den Kopf. »Für heute ist es zu spät. Die Wachen an der Fähre lassen niemanden mehr in die Stadt hinein. In letzter Zeit treibt sich allerlei Gesindel in der Gegend herum. Deshalb ziehen sie bei der Abenddämmerung |264| die Brücke hoch und legen die Fähre still. Vor morgen früh richten wir nichts aus.«
»Aber für Hinrik kommt es auf jede Sekunde an«, flehte Greetje.
»Wir erreichen gar nichts, wenn wir am Ufer der Stör übernachten und darauf warten, dass wir morgen in die Stadt hineingehen dürfen. Wir legen uns schlafen, und morgen sehen wir weiter.« Greetje musste einsehen, dass sie zurzeit nichts für den geliebten Mann tun konnte. Ihr blieb gar keine andere Wahl, als sich Spööntje zu fügen, denn ohne sie würde sie den Knecht auf keinen Fall rechtzeitig vor der Hinrichtung finden.
Sie schlief schlecht in dieser Nacht, wurde von Albträumen geplagt, aus denen sie immer wieder aufschreckte. Sie versuchte, an das Schöne zu denken, das ihr widerfahren war, immer wieder aber drängten sich ihr die schrecklichen Bilder des Henkers in seiner dunklen Lederkleidung und mit der schwarzen Kapuze auf. Sie kamen, so sehr sie sich auch dagegen wehrte, und dann sah sie das in der Sonne blitzende Schwert herabfahren und mit dumpfem Klang aufschlagen.
Sie schlang die Hände ineinander und betete so
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