Der Blutrichter
einfahrenden und auslaufenden Schiffe sehen konnten, als augenscheinliche Mahnung, die gesetzlichen Bestimmungen Hamburgs zu wahren. Alle Schiffe mussten an der kleinen Insel Grasbrook vorbei. Es gab keinen anderen Weg zur Hansestadt. Man musste das Tor der Toten passieren, ob man wollte oder nicht.
»Ein solcher Stellvertreter ist hoch angesehen beim Adel und beim Volk, vorausgesetzt, er tritt aus purem Edelmut an und um die Unschuld zu verteidigen.«
»Das ist selbstverständlich.«
»Wer aber Stellvertreter wird, um dafür einen Lohn zu kassieren, ganz gleich welcher Art, wird verachtet und verliert das Recht, mit anderen Rittern zusammenzusitzen und auf gleicher Ebene zu verkehren.«
|260| »Auch das ist mir bekannt.«
»Aber du scheinst nicht zu wissen, dass dein Vater nicht den Stellvertreter gemacht hat, um vor Gott zu beweisen, dass sein Auftraggeber unschuldig ist, sondern weil es sich um einen reichen Juden handelte, der ihm einige Monate später vermutlich sehr viel Geld dafür gezahlt hat. Die beiden haben es sehr geschickt angestellt, so dass ihnen niemand das Geschäft beweisen konnte. Tatsache aber ist, dass Friedrich vom Diek plötzlich über Mittel verfügte, um sich Ländereien und Häuser zu kaufen. Tut mir leid, Junge, aber dein Vater hatte Dreck am Stecken. Er war ein netter Kerl, ich mochte ihn, doch sauber war er nicht.«
Hinrik mochte nichts mehr hören. Höflich, aber bestimmt bat er den Alten, ihn in Ruhe zu lassen. Bisher hatte er geglaubt, sein Vater habe das Geld für das Land bei Itzehoe im ritterlichen Kampf gewonnen. Aber er wusste, dass der Alte die Wahrheit sagte.
Hinrik war beinahe froh über die Begegnung. Bisher war es ihm nicht gelungen, tief in seinem Inneren Abschied von den Ländereien zu nehmen, die ihm gehört hatten. Das war nun anders. Er war nicht mehr interessiert an Gütern, die auf ehrlose Weise erworben worden waren. Mochten andere damit glücklich werden.
Für ihn spielte das Land keine Rolle mehr. Sein Leben neigte sich dem Ende zu. Ihm blieben nicht einmal mehr zwei Tage. Er faltete die Hände, schloss die Augen und suchte Trost im Gebet. Nur zu gern und ohne zu zögern hätte er sich einem Gottesurteil unterworfen, wenn er die Möglichkeit dazu gehabt hätte. In seinem Fall aber wollte das Gericht gar nicht wissen, ob er unschuldig war oder nicht. Richter von Cronen vertrat nicht die Gerechtigkeit, sondern wollte ihn mit allen Mitteln vernichten.
|261| »Ich glaube, jetzt habe ich wirklich begriffen«, sagte Greetje zu sich selbst, als sie die Stadtmauern Hamburgs hinter sich gelassen hatte und das Pferd unter sich antrieb. Sie hatte sich Männerkleidung besorgt, sogar Hosen angezogen, und verbarg das krause dunkelblonde Haar unter einer Mütze, die bis über die Ohren herabreichte. Ebenso saß sie nach Art der Männer im Sattel. Es kam ihr ungehörig vor, aber sie hatte keine andere Wahl. Wenn sie als Mann gelten wollte, dann musste sie so reiten, und es war wichtig, als Mann durchzugehen. Eine Frau hätte die lange Strecke von der Hansestadt bis nach Itzehoe kaum unbelästigt bewältigen können. Sie wäre vor allem auf den Fähren über die Flüsse belästigt worden.
So aber drehte sie anderen den Rücken zu, um von vornherein deutlich zu machen, dass sie an keinerlei Unterhaltung interessiert war, und vermied auf diese Weise jeglichen Kontakt.
Es machte sie nervös, dass sie so langsam vorankam. Sie trieb das Pferd an, das sie sich von einem ehemaligen Patienten ihres Vaters geborgt hatte. Aber das Tier hielt das angeschlagene Tempo nicht lange durch. Es war eine bärenstarke Stute, die sicherlich in der Lage war, Baumstämme aus dem Wald zu ziehen oder schwere Lasten zu tragen, aber sie war langsam und nicht sehr ausdauernd.
Hinriks Ziel war es gewesen, ein leichtes, schnelles und wendiges Pferd zu züchten, das außerdem lange Strecken mit hoher Geschwindigkeit laufen konnte, Pferde, wie es sie in Spanien und in den arabischen Ländern gab. Jetzt wusste sie, welche Vorteile er bei diesen Pferden sah. Sie hatte noch nicht einmal mehr zwei Tage bis zur Hinrichtung. Wie glücklich wäre sie gewesen, hätte sie ein Pferd gehabt, das die Stadt an der Stör in ein paar Stunden hätte erreichen können.
|262| Es war bereits später Nachmittag, und die Ebbe zog das Wasser aus den Flüssen zurück, als Greetje den Rand der Niederung erreichte, in der die Stadt Itzehoe lag. Sie überquerte die Stör nicht, sondern ritt am Waldrand entlang, bis sie einen
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