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Der böse Geist vom Waisenhaus

Der böse Geist vom Waisenhaus

Titel: Der böse Geist vom Waisenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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stand: KEINE GEWALT GEGEN KINDER
    Darunter stand: SIGNALE SEHEN —
HILFERUFE HÖREN

    Was darunter stand, war in
kleiner Schrift gesetzt.
    Tim, der am nächsten stand, las
vor: „Gewalt gegen Kinder geht jeden an — auch Sie. Achten Sie auf die Signale
und Hilferufe der Kinder, auch wenn sie leise und verschlüsselt sind. Wenden
Sie sich nicht ab, sondern mischen Sie sich ein. Auch Sie können helfen. Wenn
Sie Fragen haben, wenden Sie sich an Ihr Jugendamt. — Und ganz unten, Leute,
steht: Bundesministerium für Frauen und Jugend.“
    „Eine Aufklärungskampagne“,
sagte Gaby.
    „Darüber habe ich gelesen“,
sagte Karl. „Und über die Gründe dafür. Mir ist es kalt über den Rücken
gelaufen.“
    „Wieso?“ fragte Klößchen.
„Worum geht es denn?“
    „Es geht darum“, sagte Gaby,
„daß Kinder oft unsagbares Leid erfahren — und zwar in der eigenen Familie.
Gern wird das verschwiegen. Gern wird es unter den Teppich gekehrt. Nach dem
Motto: Was nicht sein darf, ist auch nicht. Aber die Wirklichkeit sieht anders
aus, nämlich grausam.“
    „Höre ich zum erstenmal“, sagte
Klößchen.
    „Auf dreierlei Weise“, fuhr
Gaby fort, „können Kinder mißhandelt werden: mit körperlicher Gewalt,
seelischer Gewalt und sexueller Gewalt. Nachweislich werden in unserem Land
jährlich hundert Kinder zu Tode geprügelt. Rechtsmediziner gehen allerdings von
einer viel höheren Zahl aus, nämlich von tausend Todesfällen durch Gewalt. Die
Dunkelziffer ist so groß, weil die meisten Fälle nicht erkannt werden. Erst
eine Obduktion könnte das klären. Für die seelische Gewalt, die zwar keine
sichtbaren Wunden hinterläßt, aber bleibende Schäden ein Leben lang, gibt es
keine Zahlen. Würde man sie ermitteln, wären sie sicherlich astronomisch. Ein
besonders widerwärtiges Kapitel ist der sexuelle Mißbrauch von Kindern.
Unsereins kann sich das nicht vorstellen. In der eigenen Familie? Unter
Blutsverwandten? Zwischen Vater und Tochter? Fachleute sprechen von bis zu 300
000 Opfern pro Jahr. Nur ein Bruchteil dieser Taten kommt ans Licht.“
    Stille.
    Tim betrachtete immer noch den
gemeuchelten Teddybär.
    „Es fällt schwer, das zu
glauben“, sagte Karl. Er sah blaß aus um die Nase.
    „Sind Tatsachen.“ Gaby rückte
an ihrer Kapuze.
    „Die Menschen sind Schweine“,
stellte Klößchen fest.
    „Nicht alle“, sagte Tim. „Aber
einige. Brutale, triebhafte, hemmungslose Typen. Abartig, verantwortungslos. Es
kann einem übel werden. Man darf sich über nichts wundern auf dieser Welt.“
    „Und man darf nie aufhören,
dagegen anzugehen“, sagte Gaby. „Das ist ja der Sinn der Kampagne. Wer etwas
beobachtet, wem etwas auffällt — der soll sich um Himmels willen nicht als
Petze vorkommen, Verleumder, Verräter oder Denunziant (jemand, der andere
aus Gehässigkeit anzeigt ), sondern er soll handeln! Und handeln heißt in
diesem Fall, Anzeige erstatten bei der Polizei oder beim Jugendamt, damit
untersucht wird, ob ein Kind in Not ist — ein Kind, das selbst nicht die
Möglichkeit oder den Mut hat, sich aus seinem Elend zu befreien. Denn Angst ist
ein enger Käfig. Angst macht stumm und sprachlos. Dennoch — mißhandelte Kinder
senden Signale aus. Man muß nur darauf achten — und darauf reagieren, jeder in
seiner Umgebung.“
    „Uns braucht man das nicht zu
sagen“, meinte Tim. „Wir haben uns nie anders verhalten und werden auch immer
so weitermachen.“
    „Für viele andere“, entgegnete
Gaby, „gilt das leider nicht. Die haben Hemmungen, eine falsche Scheu. Sie
bemerken, daß in einer Familie irgendwas nicht in Ordnung ist, weil ein Kind
stumm leidet, auffällig wird durch sein Verhalten — aber die Leute tun nichts,
solange das Kind nicht zugerichtet wird wie Christian. Es hat ja seine Eltern,
damit beruhigen sie sich, wird schon alles in Ordnung sein. Nur nicht
einmischen! Diese Bequemlichkeit ist der Nährboden für Gewalt gegen Kinder.
Körperliche Gewalt, seelische und sexuelle. Auch für die Kinder, die das
überstehen, bleibt diese Gewalt bestimmend für ihr Leben. Diese Kinder können
anfällig werden für Drogen, für fragwürdige Sekten, für radikale,
menschenfeindliche Gesinnung. Wer selbst nur Böses erlebt hat, wie soll der
sich anders verhalten? Wer als Kind mißhandelt wurde, wird das als Erwachsener
weitergeben an seine eigenen Kinder.“
    „Ein Teufelskreis“, nickte Tim.
„Kann nur durchbrochen werden durch rechtzeitiges Eingreifen. Also, die
Kampagne ist stark.

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