Der böse Geist vom Waisenhaus
blätterte er im
Telefonbuch.
...Reistmeier, Reit,
Reitenberger, Reitgarnituren — Fachgeschäft für, Reithl... endlich!
Dr. Matthias Reithl, Zahnarzt.
Vleske wählte.
Fast augenblicklich wurde
abgehoben.
„Reithl.“ Eine barsche,
trotzdem fettige Männerstimme. „Spreche ich mit Dr. Reithl?“
„Ja.“
„Dem Vater von Christian?“
„Der bin ich. Wer spricht
dort?“
„Das erfahren Sie später. Wie
geht es dem Jungen?“
„Hören Sie mal! Ich bin nicht
das Auskunftsbüro für Herrn Unbekannt. Wer sind Sie? Was wollen Sie?“
„Ich werde gesucht von der
Polizei. Es heißt, ich hätte Christian zusammengeschlagen.“
„Ah!“ Reithls Stimme wurde noch
fettiger. „Sie sind dieser Erwin Vleske, den die Stadtstreicher Rotbart
nennen.“
„Ich war es nicht.“
„Was?“
„Ich habe Christian nichts
getan.“
„Natürlich haben Sie!“ brüllte
Reithl. „Mein Junge ist halbtot. Und er hat klar und deutlich ausgesagt: Vleske
war’s. Rotbart.“
„Unmöglich. Zu wem soll er das
gesagt haben?“
„Zu dem Jungen — nein, es sind
zwei, die ihn fanden. Deren Zeugenaussage — Christian wurde sofort wieder
bewußtlos — ist zuverlässig.“
„Dann hat Christian gelogen —
aus Angst.“
„Da kann ich nur lachen. Mein
Sohn wird doch wissen, wer ihn so zugerichtet hat.“
„Natürlich weiß er das. Aber er
hat nicht den Mut, es auszusprechen.“
„Was faseln Sie da?“
„Sie, Reithl, und ich wissen,
daß Christian nicht die Wahrheit sagt. Er traut sich nicht. Er hat zwar einen Versuch
gemacht, sich aus seinem Elend zu befreien. Aber es war nur ein Versuch — ein
halbherziger Versuch. Bevor Christian sein Vorhaben verwirklichen konnte, wurde
er so zugerichtet. Halbtot geschlagen, wie Sie sagen. Danach hatte er den Mut
nicht mehr. Ich kann mir das gut vorstellen.“
„Ich verstehe nicht, wovon Sie
reden.“
„Reithl, ins Geschäft kommen
wir nur miteinander, wenn Sie aufhören, mich zu verarschen.“
„Geschäft?“ Es klang lauernd.
„Ich bin Christian im Stadtwald
begegnet. Der Junge wollte zu seiner Baumhütte. Er heulte steinerweichend,
schluchzte was von seinem Vater, der ihn bestimmt wieder fürchterlich schlagen
würde — wie so oft, wie immer — , weil er, Christian, in der Diele eine Vase
zerbrochen habe, versehentlich. Er hatte einen Brief bei sich. Den wollte er
ans Jugendamt schicken. Aber sich in seiner Baumhütte zu verkriechen, war ihm
erst mal wichtiger. Jedenfalls gab er mir den Brief. Ich sollte ihn in den
Briefkasten einwerfen.“
„Ein Brief?“ Reithls Stimme
hatte sich verändert. Unsicherheit schwang mit.
„Ich vergaß das, weil ich
selbst bis zum Hals in Problemen stecke. Später fand ich den Brief in der
Tasche. Er war nicht zugeklebt. Moment, ich lese ihn vor.“
Vleske entfaltete den Bogen.
„An das Jugendamt der Stadt.
Ich heiße Christian Reithl, bin 9 Jahre alt und wohne in der Sonnenhang-Straße
41. Ich bitte um Hilfe. Mein Vater schlägt mich immerzu. Auch wenn ich gar
nichts angestellt habe, schlägt er mich. Mit der Faust oder mit einem Stück
Kaminholz. Meine Mutti schlägt mich nicht, aber sie kann meinen Vater nicht
davon abhalten. Sie sagt, mein Vater ist krank. Er ist Alkoholiker. Er muß
immerzu Schnaps trinken und dann weiß er nicht, was er tut. Das ist seine
Krankheit. Mutti sagt, ich darf niemandem was sagen. Sonst verliert mein Vater
seinen Beruf, und wir haben nichts mehr zu essen. Deshalb geht sie auch nicht
zum Arzt mit mir, sondern klebt immer selbst ein Pflaster drauf. Ich habe schon
oft geblutet im Gesicht. An der Brust hatte ich blaue und grüne Flecke. Einmal
konnte ich einen ganzen Tag lang auf dem linken Auge nichts sehen, weil mich
mein Vater mit der Faust gegen den Kopf geschlagen hat. Einmal war ich
bewußtlos. Meine Mutti hat mit mir geweint, aber zum Arzt ist sie auch dann
nicht gegangen. Ich bin ganz verzweifelt, weil mein Vater mit den Schlägen
nicht aufhört. Deshalb bitte ich das Jugendamt, ihm zu sagen, er soll damit
aufhören. Bitte, bitte helfen Sie mir.“
Vleske schwieg.
„Ist... ist doch Blödsinn.“
Reithls Stimme war heiser. „Der Junge phantasiert. Überschäumende Phantasie.
Natürlich bestrafe ich ihn manchmal mit einer Ohrfeige. Aber ich mißhandele ihn
nicht.“
„Dann ist ja alles in Ordnung“,
sagte Vleske, „und Sie haben nichts dagegen, wenn ich diesen Brief der Polizei
aushändige.“
„Äh... lassen Sie uns darüber
reden.“
„Deshalb rufe ich ja an.“
„Ich will nur
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