Der böse Wulff?: Die Geschichte hinter der Geschichte und die Rolle der Medien
Wahlgang müsste die Linkspartei geschlossen
für Gauck stimmen, was die Linke aber ausgeschlossen hat. Gleichzeitig müsste es in den Reihen von Union und FDP zu einem „Dammbruch" kommen und zwei Dutzend Delegierte für Gauck stimmen. Da eine Wahl Gaucks zweifellos das Ende von Merkels Kanzlerschaft wäre,
ist dieses Szenario ziemlich unwahrscheinlich. Die Parteispitzen von
Union und FDP gehen deshalb insgeheim davon aus, dass Christian
Wulff spätestens im zweiten Wahlgang mit absoluter Mehrheit gewählt
wird. Philipp Rösler hat eine Wette laufen, dass es für Wulff im ersten
Wahlgang reichen wird. Aufgrund der undurchsichtigen Ausgangslage
halten sich aber alle mit Prognosen zurück. Im Gegenteil: Wulff selbst
erklärt wenige Tage vor der Bundesversammlung, dass er nicht damit
rechnet, im ersten Wahlgang gewählt zu werden. Dass ein dritter Wahlgang nötig werden könnte, glaubt angesichts der komfortablen Mehrheit von Schwarz-Gelb allerdings niemand.
Als Bundestagspräsident Norbert Lammert die Bundesversammlung um 12 Uhr in gewohnt launiger Weise eröffnet, ist keiner der
Anwesenden darauf vorbereitet, um 21 Uhr immer noch im Reichstag
zu sitzen. Es wird die längste Bundesversammlung in der Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland. Da es ein heißer Sommertag ist,
wird zwischenzeitlich sogar das Wasser knapp. Die ehemalige Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, Heide Simonis (SPD), erleidet
gar einen Schwächeanfall. Als Joachim Gauck gefragt wird, was man
ihm in seinem Aufenthaltsraum zu essen servieren soll, ist er völlig
irritiert: So lange, entgegnet er verwundert, werde das alles ja wohl
nicht dauern.
Drei Wahlgänge braucht Christian Wulff am 30. Juni 2010, bis er
zum Bundespräsidenten gewählt ist. Um 21:15 Uhr verkündet Lammert schließlich das Ergebnis des dritten und letzten Wahlganges. Zu
diesem Zeitpunkt haben die Delegierten und mit ihnen die Medien
vor den Türen des Plenarsaals über neun Stunden Bundesversammlung in den Knochen. Präsidentenwahlen sind immer langwierige
Veranstaltungen, selbst wenn es nur einen Wahlgang braucht. Das
liegt zum einen an der großen Zahl der Delegierten. Hinzu kommt,
dass jeder einzelne Delegierte namentlich aufgerufen wird, um dann geheim zu wählen. Während in den ersten beiden Wahlgängen die
absolute Mehrheit nötig ist, reicht im dritten Wahlgang die einfache
Mehrheit der Stimmen aus. Im ersten Wahlgang bekommt Christian
Wulff 600 Stimmen und damit 23 weniger als zur absoluten Mehrheit
nötig. Das Ergebnis erstaunt, schließlich verfügen CDU, CSU und
FDP über eine komfortable Mehrheit von rechnerisch 21 Stimmen
„über den Durst". Das heißt, dass unterm Strich rechnerisch 44 Delegierte von Union und FDP dem eigenen Kandidaten die Gefolgschaft verweigern. Joachim Gauck kann 499 Stimmen auf sich vereinigen und damit 42 mehr, als SPD und Grüne über Delegierte verfügen. Die Kandidatin der Linken, Lukreziajochimsen, kommt auf 126
Stimmen und damit sogar auf zwei mehr, als es linke Delegierte gibt.
Nach dem ersten Wahlgang wird die Sitzung unterbrochen und die
Fraktionen ziehen sich zu Beratungen zurück. Bei der Unionsfraktion
ruft die Kanzlerin die Delegierten zur Geschlossenheit auf. Ihr Auftritt
wird aber von Teilnehmern als kraftlos beschrieben.
Der zweite Wahlgang bringt ein ähnliches Ergebnis wie der erste
- wiederum gelingt es Christian Wulff nicht, die absolute Mehrheit
der Stimmen auf sich zu vereinigen, wenn auch einige mehr als im
ersten Wahlgang. Zur absoluten Mehrheit fehlen immer noch acht
Stimmen, das heißt, Union und FDP bleiben zusammen 29 Stimmen
unter ihren Möglichkeiten. Joachim Gauck ist zu Tränen gerührt,
als ihm mitgeteilt wird, dass ein dritter Wahlgang nötig ist. Die
Fraktionen ziehen sich erneut zu Beratungen zurück. Wieder spricht
Merkel zu den Unionsdelegierten, diesmal engagierter als nach dem
ersten Wahlgang, doch ihren Schlusssatz „Aller guten Dinge sind
drei" empfinden viele als unpassend. Dann meldet sich Roland Koch
zu Wort. Koch redet den Delegierten kämpferisch ins Gewissen und
macht ihnen klar, was auf dem Spiel steht. Er genießt vor allem bei
den konservativen Unionsdelegierten hohes Ansehen. Zwar weiß
niemand, wer im schwarz-gelben Lager für Gauck stimmt, doch die
Parteiführung hat neben den Ostdeutschen in der CDU vor allem
auch den konservativen Flügel der Partei in Verdacht, der seit Langem schon mit dem Kurs der Parteichefin
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