Der böse Wulff?: Die Geschichte hinter der Geschichte und die Rolle der Medien
2012 zurücktritt, gehört Kolat zu denen, die den Rücktritt öffentlich bedauern. Das tut er im Sommer 2012 immer noch. „Er
war kein klassischer Bundespräsident, er war im positiven Sinne nicht
so präsidial, denn er hat mit allen gesprochen, war sehr nah bei den
Menschen, an den jungen, den Migranten, die immer sehr schnell merken, ob sich jemand für sie interessiert." Mit Wulff habe es eine große
Identifikation aufseiten der türkischen Migrantinnen und Migranten
gegeben. „Er hat nicht nur gesprochen, sondern auch gehandelt. Zum
ersten Mal hatten wir das Gefühl, er ist auch unser Bundespräsident."
Auch Johannes Rau habe sich schon um das Thema Integration verdient
gemacht, fährt Kolat fort. „Rau war ein guter Bundespräsident, aber
der Funke kam bei Wulff rüber. Wulff war ein Motivator und nicht
nur ein Mahner." Kolats Frau ist SPD-Politikerin und Senatorin in
Berlin. Die Zuneigung der Türken kommt nicht von ungefähr. Die
Grundlage dafür legt Wulff 2010 am Tag der deutschen Einheit.
Am 3. Oktober sitzt die gesamte politische Prominenz der Bundesrepublik in der „Bremen Arena". Der 20. Jahrestag der deutschen Einheit wird gefeiert, und man hätte sich sicherlich einen schöneren Ort
dafür vorstellen können, doch in diesem Jahr ist das Bundesland Bremen an der Reihe, die Feier auszurichten, und die Bremer haben sich
dafür entschieden, den Festakt in der „Arena" zu veranstalten. Eröffnet
wird die Feier mit einer Ouvertüre von Schostakowitsch, am Ende
ertönt Beethovens „Fidelio" und zwischendurch findet ein buntes Programm statt, das verdeutlichen soll, wie bunt es in Deutschland zugeht.
Höhepunkt der Feier ist die Rede zum Tag der deutschen Einheit
- es spricht der Bundespräsident. Die Erwartungen im Vorfeld sind
enorm. Es ist Christian Wulffs erste große Rede, er ist ziemlich genau
hundert Tage im Amt. Der Zeitpunkt ist also erreicht, an dem die
Medien bilanzieren, wie der neue Präsident sich so anstellt. Der Eindruck der ersten hundert Tage ist nicht der beste: Der Mallorca-Urlaub im Maschmeyer-Anwesen sowie die Äußerungen zur Love-Parade und zum Fall Sarrazin haben eher den Eindruck vermittelt, dass
Christian Wulff noch mehr Ministerpräsident ist als Bundespräsident.
Der Spiegel stellt am 20. September 2010 fest, dass Wulff sich mit
seinem neuen Amt schwertue. Er habe noch nichts Bemerkenswertes
gesagt, so die Bilanz nach nicht einmal 100 Tagen im Amt, der sich
die Frage anschließt: „Kann seine Rede am Tag der Einheit die Wende bringen?"
Wulff weiß, dass von seiner Rede zum 3. Oktober abhängen wird,
wie sein Start im Amt beurteilt wird. Die Macht des Bundespräsidenten ist die Macht des Wortes - jetzt ist es so weit. Wulff spricht rund
30 Minuten. Zunächst dankt er den Menschen, die für die Wiedervereinigung gekämpft haben, vor allem den Ostdeutschen. Er spricht
vom Wunder von Leipzig, das die Menschen dort möglich gemacht
hätten, indem sie sich ohne Blutvergießen von der Diktatur befreit
hätten. Nach der Wiedervereinigung seien es dann vor allem die Ostdeutschen gewesen, „die den allergrößten Teil des Umbruchs geschultert haben, damit unser Land wieder zusammenfand. (...) Mit einer
unglaublichen Bereitschaft zur Veränderung. Das ist bis heute nicht
ausreichend gewürdigt worden." Wulff richtet den Blick dann von der
Vergangenheit in die Gegenwart, auf die Herausforderungen, vor denen Deutschland 20 Jahre nach der Wiedervereinigung steht. Die
Aufgabe sei, „mit dem Mut zur Veränderung neuen Zusammenhalt
zu finden in Deutschland, in einer rasant sich verändernden Welt."
Er kommt damit auf den eigentlichen Schwerpunkt seiner Rede.
Wulff stellt fest, dass Deutschland offener und „der Welt zugewandter"
geworden sei, um dann seinerseits aber mehr Offenheit einzufordern.
„Das Land muss Verschiedenheit aushalten. Es muss sie wollen". Gleichzeitig dürften zu große Unterschiede den Zusammenhalt nicht
gefährden. „Vielfalt schätzen, Risse in unserer Gesellschaft schließen",
das sei die Aufgabe der „deutschen Einheit" heute. Der Ruf der Einheit
„Wir sind das Volk" müsse heute „eine Einladung an alle sein, die hier
leben". Den Muslimen in Deutschland sagt er schließlich: „Wenn mir
deutsche Musliminnen und Muslime schreiben: Sie sind unser Präsident', dann antworte ich aus vollem Herzen: Ja, natürlich bin ich Ihr
Präsident! Und zwar mit der Leidenschaft und Überzeugung, mit der
ich der Präsident
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