Der böse Wulff?: Die Geschichte hinter der Geschichte und die Rolle der Medien
einem Interview
mit der Zeit für sich abgelehnt und neu formuliert. Auf die Frage, wie
er sich ausgedrückt hätte, antwortet Gauck: „Ich hätte einfach gesagt,
die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland." Gaucks Satz
kann wohl jeder unterschreiben - aber hätte er eine vergleichbare Debatte ausgelöst? Wohl kaum.
Man kann geteilter Meinung sein, ob Wulffs Rede zum 3. Oktober
nun das Attribut „groß" verdient oder nicht. Ein guter Redner, auch
das wird am 3. Oktober deutlich, ist er nicht. Bei Wulff läuft man
immer Gefahr, die Kernaussage zu verpassen, weil er es nicht beherrscht, sie rhetorisch in Szene zu setzen. Wulffs Stimme, Betonung,
aber auch Gestik sind nicht die eines großen Redners. „Christian Wulff
ist ein Präsident, der mit schlechter Rhetorik Gutes sagt", stellt der
Innenpolitik-Chef der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, im Oktober 2010 fest. Das trifft es ziemlich genau. Seit dem 3. Oktober 2010
ist Christian Wulff untrennbar mit dem Satz „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland" verbunden, es ist der Satz seiner Präsidentschaft. Das ist, trotz der kurzen Zeit im Amt, nicht mehr und
nicht weniger, als der Bevölkerung von den meisten anderen Bundespräsidenten vor ihm in Erinnerung geblieben ist.
Christian Wulff allerdings bleibt nicht primär für diesen Satz in
Erinnerung, sondern wegen der kürzesten Präsidentschaft in der Geschichte der Bundesrepublik, die dazu mit einem Desaster endet. In
den Monaten nach seiner Islam-Rede wird Wulff immer wieder vorgeworfen, anschließend sei zu seinem Kernanliegen „Integration"
nichts mehr gekommen. Doch das würde bedeuten, die Wahrnehmung des Präsidenten auf seine Reden zu beschränken. Die Türken
zumindest haben eine andere Wahrnehmung.
Wulff und Gül -
eine Präsidentenfreundschaft
üseyin Karsioglu hat zwei Fotos auf einem kleinen Tischchen
in seinem Büro in der türkischen Botschaft in Berlin, auf
denen er mit einem Bundespräsidenten abgebildet ist. Das
eine zeigt ihn mit Joachim Gauck bei einem Besuch im Bellevue, das
andere mit Christian Wulff. Es ist entstanden, als Karsioglu beim Bundespräsidenten war, um sein Beglaubigungsschreiben als neuer türkischer Botschafter zu überreichen. Wulff und der türkische Botschafter
tragen einen Cut. Karsioglu spricht lange über Wulff, zwei Stunden
lang, dann geht er an seinen Rechner, um nach Fotos zu suchen, die er
selbst gemacht hat während des Staatsbesuchs der Wulffs im Oktober
2010 in der Türkei. Karsioglu erlebt den Besuch aus nächster Nähe mit,
denn zu diesem Zeitpunkt ist er noch nicht als Botschafter in Berlin,
sondern Büroleiter des türkischen Präsidenten Abdullah Gül. Die beiden Präsidenten, sagt Karsioglu, hätten eine ganz besondere Beziehung
gehabt. „Normalerweise sagt man immer, dass ein Verhältnis auf dieser
Ebene freundschaftlich ist. Aber es war mehr als das, es war herzlich."
Das habe man an der Körpersprache gemerkt und an den sehr langen
Unterhaltungen, die die beiden miteinander geführt hätten. Wulff habe
dabei durch seine große Offenheit beeindruckt. „Er hatte eine strategische Vision von der Zukunft Europas, dass die Dinge sich von Kon- frontation zu Kooperation der Kulturen und Religionen entwickeln
müssen. Ich hatte das Gefühl, er war ein Friedensmensch." Wulffs
Verhalten in der Türkei und sein Ton seien überzeugender gewesen als
bei vielen anderen deutschen Politikern. „Er war ehrlicher." Die Rede,
die Wulff vor seinem Türkeibesuch am 3. Oktober 2010 gehalten hat,
sei in der Türkei sehr wohlwollend aufgenommen worden. „Was er
gesagt hat, war die Anerkennung der Realität und ein Zeichen der
Zuwendung zu anderen Kulturen. Das wurde sehr geschätzt, zumal er
in der CDU war."
Dabei setzt Wulff sich bei seinem Besuch in der Türkei vom 18. bis
22. Oktober 2010 durchaus kritisch mit den Türken und vor allem
der Situation der Christen in der Türkei auseinander. Am 19. Oktober
hält Wulff eine Rede vor dem türkischen Parlament, als erster Bundespräsident. Dabei nimmt er kein Blatt vor den Mund: Wulff lobt
die Leistungen der türkischen Einwanderer in Deutschland, um dann
aber auch die Probleme bei der Integration zu benennen, wie „Machogehabe" oder Bildungs- und Leistungsverweigerung. „Durch multikulturelle Illusionen wurden diese Probleme regelmäßig unterschätzt."
Sätze wie diesen sagt Wulff zweifellos auch, um dem Grummeln in
CDU und CSU über seine Rede
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