Der böse Wulff?: Die Geschichte hinter der Geschichte und die Rolle der Medien
gibt es mit dem 20. Jahrestag des deutschpolnischen Freundschaftsvertrages einen guten Anlass und Polen
übernimmt zwei Wochen später erstmalig die EU-Präsidentschaft.
Die Beziehungen zu Polen liegen Wulff sehr am Herzen, den deutschen Nachbarn im Osten besucht er mehrfach. Und dennoch: Als ahne man schon die Reaktionen auf diese Ankündigung, weist das
Bundespräsidialamt vorsorglich darauf hin, dass auch schon Roman
Herzog ausländische Staatsgäste eingeladen hat, die Berliner Rede zu
halten: 1998 den finnischen Präsidenten Martti Ahtisaari und ein
Jahr darauf UN-Generalsekretär Kofi Annan. Seine berühmte „Ruck
Rede", so erklärt Präsidentensprecher Olaf Glaeseker Journalisten in
persönlichen Gesprächen, habe Herzog außerdem erst im dritten
Amtsjahr gehalten.
Doch das ändert wenig am Gesamteindruck: Da Wulff sich sonst
jedoch auch nicht zu Wort meldet, entsteht der Eindruck, der Bundespräsident habe zu den aktuellen Fragen, die Politik und Gesellschaft beschäftigen, entweder nichts zu sagen oder er drücke sich davor. Dementsprechend fallen die Kommentare im Umfeld der Berliner
Rede aus. Die Zeitung Die Weltkommentiert: „Der Bundespräsident
fällt durch Schweigen auf", Wulff gehe der ersten eigenen Berliner
Rede „aus dem Weg" und erwecke so den Eindruck, als habe er „nichts
zu sagen". Spiegel Online berichtet über den „sprachlosen Präsidenten",
der sich nicht mehr „dem Druck der Medien und der Öffentlichkeit"
aussetzen wolle. In der Tat vergibt Wulff mit der Berliner Rede eine
Chance, weiter an Profil zu gewinnen und an den Erfolg seiner Rede
zum Tag der deutschen Einheit ein Jahr zuvor anzuknüpfen. Und das
zu einem Zeitpunkt, wo die Medien Bilanz ziehen: Ende Juni ist Wulff
ein Jahr im Amt, es ist absehbar, dass die Medien sich zu diesem Anlass mit Wulffs Leistungsbilanz auseinandersetzen werden.
Mitte Juni veröffentlicht die Bild am Sonntag eine Umfrage des
Meinungsforschungsinstituts emnid, wonach sich 78 Prozent der
Menschen wünschen, der Bundespräsident möge sich zu aktuellen
Fragen der Politik wie Eurokrise und Atomausstieg häufiger zu Wort
melden. Seiner Beliebtheit tut das dennoch keinen Abbruch: Über
80 Prozent sind der Ansicht, dass Wulff Deutschland gut repräsentiere. Auch die Politik meldet sich zu Wort und ermutigt Wulff, sich
mehr einzumischen. CSU-Chef Seehofer bescheinigt dem Bundespräsidenten, sein Amt „sehr, sehr gut" zu führen, äußert aber gleichzeitig die Hoffnung, dass Wulff „mit zunehmender Amtsdauer stärker das Wort auch in aktuellen Debatten ergreifen" werde. Auch SPD
und Grüne finden lobende Worte, geben dem Bundespräsidenten
aber gleichzeitig einen Schubser: Mit seinen Äußerungen zum Islam
habe Wulff eine wichtige Debatte angestoßen, stellt die Grüne Renate Künast fest und wünscht sich, „dass der Bundespräsident sich
häufiger auch in andere gesellschaftspolitische Debatten einmischt".
SPD-Fraktionschef Steinmeier lobt Wulff ebenfalls für seine Akzente beim Thema Integration und für seine Auslandsreisen in die Türkei und nach Israel. Die Zurückhaltung des Staatsoberhaupts in den
aktuellen Fragen der Politik wird im Juni 2011 zunehmend zum
Thema, wobei die öffentlichen Stellungnahmen noch wohlwollend
sind. Nach einem Jahr im Amt wird Wulff ermutigt, sein Schneckenhaus zu verlassen und an das anzuknüpfen, was ihm in der Zeit zwischen Oktober und Dezember 2010 gelungen ist.
Der Präsident rüffelt die Kanzlerin
er Präsident und seine Berater beschließen, den ersten Jahrestag seit der Wahl zu nutzen, um aus der Defensive zu
kommen und „klare Kante" zu zeigen. Das Bellevue pariert
die Medienkritik und die Anstupser aus der Politik mit einer Reihe
von Interviews in ausgewählten Medien: Einem Zeitungsinterview mit
der Zeit, einem Fernseh- und einem Hörfunkinterview mit der ARD
und einem Online-Interview mit Bild.de. Sorgsam achtet das Bellevue
darauf, dass die Inszenierung des präsidialen Paukenschlags gelingt.
Peinlich genau wird verfügt, wann die einzelnen Interviews erscheinen,
obwohl Wulff sie zum Teil bereits Tage vorher gegeben hat. Der Aufschlag soll ein Ass werden. Dafür soll nicht nur das Timing sorgen,
sondern auch der Inhalt: Wulff meldet sich überraschend kritisch zu
Wort. Gegenstand der präsidialen Kritik ist letztlich die Bundesregierung, ohne dass Wulff sie beim Namen nennt: Der Bundespräsident
macht sich zum Anwalt des Bundestages und beklagt in allen
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