Der böse Wulff?: Die Geschichte hinter der Geschichte und die Rolle der Medien
vorlegt.
Bereits eine Woche später beschließt das Bundeskabinett die nötigen
Gesetzesvorhaben zur Energiewende. Darin wird die endgültige Abschaltung der bereits vorläufig stillgelegten älteren Atommeiler beschlossen, genauso wie ein Fahrplan zum Atomausstieg bis zum Jahre
2022. Im Gegenzug soll der Ausbau der erneuerbaren Energien massiv
vorangetrieben werden. Ende Juni beschließt der Bundestag mit breiter
Mehrheit die Energiewende. Kurz vor der Sommerpause peitscht die Regierung damit ein Megaprojekt durch Bundestag und Bundesrat,
ohne dass die Abgeordneten eine reelle Chance hätten, auch nur zu
lesen, worüber sie abstimmen sollen. Nicht wenige von ihnen fühlen
sich zu bloßen Abnickern degradiert. Gleichzeitig kommt die Eurokrise wieder in Fahrt. Nach Griechenland und Irland im Jahre 2010
schlüpft das krisengeschüttelte Portugal unter den Euro-Rettungsschirm EFSF: Anfang April beschließt ein EU-Gipfel ein Rettungspaket in Höhe von rund 80 Milliarden Euro. Mitte Mai stimmt der
Bundestag zu. Bei vielen Abgeordneten macht sich das ungute Gefühl
breit, nicht mehr zu wissen, worüber man eigentlich entscheidet und
welche Folgen die getroffenen Entscheidungen haben könnten, während man zu Hause im Wahlkreis den Kopf dafür hinhalten muss.
All das, so die weitverbreitete Auffassung in den Medien und auch
im politischen Betrieb der Hauptstadt, schreit nach einer Wortmeldung des Bundespräsidenten. Doch Christian Wulff weicht den politisch hochbrisanten Themen lange aus. Zur Energiewende und zur
Eurokrise schweigt der Präsident. Dabei kann keine Rede davon sein,
dass Wulff die Lust an seinem Amt verloren hätte. Im Gegenteil: Der
Bundespräsident besucht die japanische Botschaft, um der TsunamiOpfer zu gedenken, er eröffnet die Landesbühnentage in Detmold
und empfängt den ungarischen Präsidenten Schmitt, den belgischen
König Albert sowie Königin Beatrix der Niederlande, im April dann
Bill Gates und NATO-Generalsekretär Rasmussen, um nur einige
der offiziellen Termine aufzuzählen, die dem Präsidialamt eine Pressemitteilung wert sind. Die eine oder andere davon sorgt für Heiterkeit in den Redaktionen: Drei Tage, nachdem die Kanzlerin ihr
Atommoratorium bekannt gibt, teilt das Bundespräsidialamt der
Öffentlichkeit mit, dass das Amtszimmer des Bundespräsidenten neue
Gemälde schmücken. Man erfährt, dass der Bundespräsident seine
Gäste seit Kurzem unter einem Gemälde von Canaletto „zum Gespräch empfängt". Korrespondierend mit Canalettos „Dresden vom linken Elbufer unterhalb der Augustbrücke" habe sich der Bundespräsident die „Italienische Landschaft" von Adolf Friedrich Harper
ausgesucht, die über dem Schreibtisch im Amtszimmer hänge.
Ende April reist das Präsidentenpaar nach Mexiko, Costa Rica und
Brasilien. Bei der Reise wird deutlich, dass Wulff die Kritik der Medien am „schweigenden Präsidenten" nicht unberührt lässt. Nach ein
paar Tagen stellt er einen der mitreisenden Journalisten aus Berlin am
Rande eines Hintergrundgesprächs an Bord der Regierungsmaschine
zur Rede, warum er denn bisher noch nichts über die Reise geschrieben habe. Wulff ist hörbar nervös und angespannt. So verbindlich er
im Umgang mit den Medienvertretern normalerweise ist, so misstrauisch kann er sein. Die Episode sorgt kurzzeitig für Kopfschütteln
in der Journalistengruppe. Die Situation macht deutlich, dass er unter Strom steht.
Tatsache ist, dass die Präsidentenreise durch Lateinamerika kaum
Beachtung in den Medien findet. Das ist frustrierend, daAuslandsreisen für den Bundespräsidenten keine Vergnügungsreisen sind. Wulff
spürt in diesen Wochen, dass das, was er macht, wenig wahrgenommen wird, gleichzeitig meint er aber, das Übrige, was von ihm erwartet wird, nicht leisten zu können. Er will auf Nummer sicher gehen in
dieser Phase der Wahlen und politischen Wendemanöver und schweigt
deshalb lieber. „Er hat befürchtet, dass man ihm das am Ende als
unangemessene Einmischung auslegen könnte", erinnert sich ein ehemaliger Mitarbeiter. „Mit der Zeit aber fiel das, was wir gemacht haben, und das, was erwartet wurde, immer mehr auseinander."
Für Irritationen sorgt schließlich, dass Wulff die traditionelle Berliner Rede in diesem Jahr nicht selber hält, sondern einen Gastredner
einlädt: Am 17. Juni spricht in der Berliner Humboldt-Universität der
polnische Präsident Komorowski. Dagegen wäre sicherlich nichts
einzuwenden, schließlich
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