Der Boss
bevor ich die zwölf Rollen Tüll nach Leverkusen kutschiere. Onkel Abdullah kam um exakt 18 Uhr 21 im Café an und musste zu seinem Entsetzen feststellen, dass er nicht nur 21, sondern 81 Minuten verpasst hatte (also abzüglich der Pause 66 Minuten Nettospielzeit). Das Spiel begann nämlich um 18 Uhr türkischer Zeit. Abdullahs Ärger verflog jedoch schnell, als er feststellte, dass Trabzonspor mit 1 : 0 in Führung lag.
Aber Onkel Abdullah ist nicht der Einzige, der heute noch pünktlich zum Fußball muss. Am letzten Abend vor meiner Hochzeit zieht es mich nicht etwa in Nachtbars und Strip-Shows, sondern ins RheinEnergieStadion. Das Schicksal und der Deutsche Fußball-Bund haben durch die Ansetzung des Spiels 1. FC Köln gegen VfL Wolfsburg um 20 Uhr 30 dafür gesorgt, dass ich den Junggesellenabschied gemeinsam mit meinem besten Freund Mark, dem Geißbock und Lukas Podolski erleben darf. Das ist auf jeden Fall stilvoller, als mich in einem albernen Kostüm und zehn Flaschen »Kleiner Feigling« um den Hals durch die Kölner Altstadt zu saufen und irgendwelche Aufgaben zu lösen, in der Art von »Bring eine Blondine dazu, dir Nutella von den Brustwarzen zu lecken«.
Die einzigen leicht bekleideten Tänzerinnen, die ich heute Abend zu Gesicht bekommen werde, sind die Cheerleader des 1. FC Köln. Und selbst Jennifer Lopez wirkt nicht mehr erotisch, wenn sie zur Musik der Höhner tanzt.
Als ich um 19 Uhr 04 bei den Denizo ğ lus klingele, denke ich darüber nach, ob ich die Tüll-Ballen nicht besser per Kurierdienst nach Leverkusen schicke, damit ich im Gegensatz zu Onkel Abdullah den Anstoß erleben kann. Dann würde ich zwar Aylin heute Abend nicht mehr sehen – aber da sie nach der Hochzeit bei mir einzieht, werden wir das mehr als kompensieren können. Ich schleppe die unglaublich schweren Koffer, aus denen eine nach Essig und Knoblauch riechende Flüssigkeit tropft, die Treppen hoch. An der Tür steht Aylin. Ihre Augen sind rot geweint.
»Aylin! Ich dachte, du bist in Leverkusen … Was … was ist los?«
»Es tut mir leid, Daniel … Wir können morgen nicht heiraten.«
Dann fällt sie mir schluchzend um den Hals.
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DRITTER TEIL
30. Januar – 2. Februar
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17
Eine Sekunde nach dem Schock.
Vor mir ist eine weiße Wand. Ich umarme eine weinende Frau und habe keine Ahnung, wer sie ist und wer ich bin.
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8
Zwanzig Sekunden nach dem Schock.
Der Nebel lichtet sich. Die Frau ist meine Verlobte. Sie heißt Aylin und hat gerade gesagt, dass wir nicht heiraten können.
Solche Momente kenne ich nur aus Seifenopern: Ein folgenschwerer Satz wird ausgesprochen, das Bild friert ein – in der Lindenstraße kommt dann immer noch dieser Geigen-Spannungsakkord, der klingt wie ein Bienenschwarm –, und dann muss man eine Woche warten, bis es weitergeht. Aber ich will jetzt wissen, was los ist!
Mein Magen krampft sich zusammen. Hat Aylin in letzter Sekunde gemerkt, dass ich doch nicht gut genug für sie bin? Eigentlich war es auch zu perfekt, um wahr zu sein. Ich, Daniel Hagenberger, und eine Traumfrau. Irgendwas in mir hat schon immer gewusst: Das ist zu perfekt. So viel Glück kann nicht von Dauer sein.
Warum mache ich mir eigentlich Gedanken und frage sie nicht einfach? Es gibt überhaupt keinen Grund, die Ungewissheit mit unnötigen Überlegungen zu verlängern.
Ich könnte jetzt einfach fragen: »Was ist denn passiert, Aylin?«, dann würde sie sagen: »Brad Pitt hat um meine Hand angehalten«, und der Fall wäre erledigt. Es würde wehtun, aber die Angst hätte wenigstens ein Ende. Wobei Brad Pitt doch mit Angelina Jolie zusammen ist, also kann ich das schon mal ausschließen. Brad Pitt könnte sich natürlich von ihr getrennt haben und dann um Aylins Hand … AAAAAAAAAAAHHHHH !!!
Ich werde um Aylin kämpfen. Egal, warum sie mich nicht heiraten will, ich werde alles tun, um sie zurückzugewinnen. O Mann,jetzt frag sie endlich, Daniel!!! Das ist ja schlimmer als damals die Angst vor dem Hirntumor. Da hatte ich mich schon vorsorglich nach OP – Terminen bei den Neuro-Spezialisten des Union Memorial Hospital in Baltimore erkundigt, bevor mein Arzt feststellte, dass es nur eine harmlose Verspannung … AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAH !!!
So, Schluss mit der sinnlosen Amok-Denkerei. Ich werde mich der Wahrheit stellen und Aylin fragen. Jetzt.
Jetzt.
Jetzt.
Jetzt.
Jetzt.
Jetzt.
Jetzt.
Jetzt.
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19
Vierzig Sekunden nach dem
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