Der Boss
Chefposten wirklich wert, dass man sich dafür in ein Milieu begibt, das man in seinem tiefsten Inneren verachtet? Ich gehe in mein tiefstes Inneres und finde eine Antwort, die mich selbst überrascht: ja.
Ja?
Ja.
Mein ganzes Leben lang haben andere über mich bestimmt: Meine Mutter hat mich gezwungen, Lichtschutzfaktor 50 zu benutzen. Mein Vater hat mich genötigt, das Gesamtwerk von Stockhausen anzuhören. Den Mädchen und später den Frauen musste ich zuhören, durfte aber nicht mit ihnen schlafen. Und als ich beim Einparken die Stoßstange eines Golf GTI nur ganz leicht touchiert habe, musste ich dem Besitzer 250 Euro geben, obwohl nicht die geringste Delle zu erkennen war. (Okay, ich musste natürlich nicht, aber wenn ein Zweimeterprolet mit der Muskelmasse eines Amazonaskrokodils einem die Neuausrichtung der Nasenscheidewand androht, ist man in einer schlechten Verhandlungsposition.)
Jetzt bin ich für Aylin der Boss und für Rüdiger Kleinmüller der Chef. Vielleicht will mir das Schicksal zeigen, dass ich in meinem Leben den nächsten Level erreicht habe. Vielleicht ist es an der Zeit, erwachsen zu werden. Vielleicht sollte ich bei der nächsten Fußball- WM keine Panini-Bildchen mehr sammeln und aufhören, mit albernen Stimmen zu sprechen, wenn ich meine Freunde treffe.
Der Anblick von Onkel Abdullah reißt mich aus meinen Gedanken. Ich hätte das Schild nicht gebraucht. Er ist Aylins Vater wie aus dem Gesicht geschnitten – mit dem Unterschied, dass sein Schnäuzer nach unten abknickt, so wie der von Wolf Biermann. Auf dem Kopf trägt er eine kleine gehäkelte Kappe. Sein kariertes kurzärmeliges Hemd und seine graue Hose sind so weit, dass Abdullah, dessen Körperform einem Gartenzwerg ähnelt, lockerzweimal reinpassen würde. Ich winke ihm zu und erinnere mich im selben Moment daran, dass das Winken an sich von Männern des osmanischen Kulturkreises eher selten praktiziert wird.
Onkel Abdullah schiebt seinen Wagen mit zwei gigantischen Koffern durch die Sicherheitsschleuse und umarmt mich so herzlich, als würden wir uns schon immer kennen. Dann malträtiert er meine Schultern mit harten Schlägen, was im Gegensatz zum Winken unter die akzeptierten Begrüßungsrituale fällt. Ich platziere gekonnt meinen auswendig gelernten Begrüßungssatz:
»Almanya’ya ho ş geldiniz Amca.«
Anmerkung
Onkel Abdullah scheint gar nicht aufzufallen, dass es für mich eine kleine Sensation ist, diesen Satz ohne Versprecher über die Lippen gebracht zu haben. Er schaut hektisch zum Ausgang.
»Schnell, Daniel, wir müssen um sechs sein in Schwarzmeer-Café in Weidengasse. Spielt Trabzonspor heute in Ankaragü ç ü.«
Ich schaue auf die Uhr. Halb sechs. Eine halbe Stunde bis zur Weidengasse. Das könnte klappen. Wenn ich mich beeile.
Siebeneinhalb Minuten später habe ich es irgendwie geschafft, die beiden Koffer in den Ford Ka zu quetschen, und verlasse das Flughafen-Parkhaus. Die Ankunftszeitanzeige des Navigationsgerätes behauptet, dass wir um 17 Uhr 58 in der Weidengasse eintreffen werden. Onkel Abdullah nimmt das mit einem zufriedenen Seufzer zur Kenntnis und klopft mir wohlwollend auf den Oberschenkel.
»Bist guter Junge, Daniel. Eine ganz besondere Mensch.«
»Danke.«
»Ist nicht normal, dass eine Deutsche wird Moslem.«
»Stimmt, das ist nicht normal.«
»Aber du hast gemacht.«
»Tja.«
»Das zeigt, du hast Charakter.«
»Tja.«
»Sag mal, Daniel …«
»Ja?«
»Warum bist du geworden Moslem?«
[Menü]
15
Noch 16 Stunden, 25 Minuten bis zur Hochzeit.
Vor einer halben Minute hat mich Onkel Abdullah gefragt, warum ich Moslem geworden bin. Danach war ich gut 15 Sekunden in einer Schockstarre, aus der mich mein Navigationsgerät befreit hat:
»Nach 300 Metern rechts abbiegen.«
Die Zeit dehnt sich. Jetzt bräuchte ich ein Konversations-Navi: »Noch zehn Sekunden dem Gesprächsverlauf folgen, dann in Richtung Fußball abbiegen.« Los, denk nach, Daniel! Vielleicht sollte ich ihm einfach die Wahrheit sagen? Aber wird er immer noch denken, dass ich ein besonderer Mensch bin, wenn ich sage, dass ich atheistisch erzogen wurde, jedoch nach dem Ende meiner ersten Beziehung das Buch Klassiker der Spiritualität gelesen habe und seitdem denke, dass es irgendwo im Universum doch eine Instanz geben muss, die noch besser Bescheid weiß als Frank Plasberg?!
Vielleicht hat Aylin recht, und die Wahrheit wäre in diesem Fall kontraproduktiv. Jetzt fließen irgendwelche Buchstaben aus meinem
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