Der Boss
zurück. Hinter uns stehen mittlerweile drei Autos, die ebenfalls die Standspur nutzen wollen, und hupen. Onkel Abdullah brüllt sie an:
»Ist verboten hier, ihr Penner! Nix hupen!«
Es folgen einige türkische Flüche, die ich nicht verstehe, dann reduziert Aylins Onkel erneut die Gummimasse der Ford-Ka-Bereifung und erreicht diesmal nicht die 165 km / h, weil der BMW vor uns konstant 120 fährt und sich nicht davon beirren lässt, dass Onkel Abdullah sowohl die akustische als auch die Lichthupe ausgiebig einsetzt.
Immerhin reduziert sich die Ankunftszeit, die nach der Vollbremsung wieder bei 18 Uhr 10 lag, nach und nach auf 18 Uhr 03. Dann ist der Stau zu Ende und Abdullah holt zwei weitere Minuten auf, weil er auf dem Zubringer nach Köln-Deutz, auf dem 70 erlaubt sind, 140 fährt. Da meldet sich die sachlich-weibliche Stimme des Navigationsgeräts.
»In 100 Metern links abbiegen.«
Onkel Abdullah reagiert nicht, weil er gerade eine SMS auf seinem Handy liest.
»Jetzt links abbiegen.«
Onkel Abdullah versucht eine weitere Vollbremsung, aber er ist zu schnell und rauscht an der Abbiegung vorbei.
»Neuberechnung … In 200 Metern links abbiegen.«
Jetzt erscheint die Ankunftszeit 18 Uhr 06 auf dem Display. Onkel Abdullah schimpft mit der Frau im Navi:
»Was soll das? Du hast viel zu spät gesagt! Du bist schuld!«
Onkel Abdullah muss bremsen: Wegen eines Tokio-Hotel-Konzerts staut es sich vor der KölnArena. Und es gibt keinen Seitenstreifen. Mit Panik in den Augen starrt Onkel Abdullah auf das Navigationsgerät und muss mit ansehen, wie die Ankunftszeitanzeige von 18 Uhr 06 auf 18 Uhr 07 umspringt. Im selben Moment meldet sich die weibliche Stimme:
»Jetzt links abbiegen.«
»Du blöde Kuh! Hier ist Scheiße-Autos vor mir, ich kann nicht fahren eine verdammte Meter – also, wie soll ich jetzt links abbiegen???«
»Jetzt links abbiegen.«
»Du willst mich kaputt machen, ja? Erst sagst du viel zu spät, und jetzt redest du eine verdammte Dreckmist, obwohl du hast keine Ahnung! Wenn du noch einmal Scheißedreckmist erzählst, fliegst du raus.«
Onkel Abdullah und die Navi-Stimme streiten sich wie ein altes Ehepaar. Irgendwie habe ich Mitleid mit der Navi-Frau, weil sie zu Unrecht beschuldigt wird, und springe ihr zur Seite:
»Äh, Onkel Abdullah, es tut mir leid, aber das Navi hat dich rechtzeitig gewarnt. Du warst nur mit dem Handy beschäftigt.«
»Nein, Navi redet Blödsinn.«
Offensichtlich ist Aylins Onkel nicht an einer sachlichen Aufarbeitung des Fehlers interessiert. Warum sollte man sich auch von etwas so Unbedeutendem wie der Realität von seinen Emotionen ablenken lassen? Bei der nächsten Ampelphase geht es nur wenige Meter voran. Die Ankunftszeit springt auf 18 Uhr 08.
»Jetzt links abbiegen.«
Onkel Abdullah schnaubt vor Wut:
»Gut. Ich habe gewarnt dich.«
Jetzt reißt er das Navi von der Scheibe, steigt aus und pfeffert es auf den bepflanzten Mittelstreifen.
»Bist du zufrieden jetzt? Das hast du davon!«
Es folgen noch ein paar türkische Flüche, dann will er das Navi treten, erwischt aber mit dem Schienbein die Leitplanke und stürzt zu Boden – nur um den Bruchteil einer Sekunde später wie ein Stehaufmännchen wieder auf den Beinen zu stehen und so zu tun, als wäre nichts passiert. Er kommt stolz zum Auto zurück – als hätte er gerade Darth Vader besiegt und sich nicht beimVersuch, ein Navigationsgerät zu treten, auf die Fresse gelegt. Ich bewundere türkische Männer dafür, wie sie es schaffen, auch in extrem peinlichen Situationen ihren Stolz zu bewahren. Mein Stolz wurde mir abgewöhnt, als ich elf war und meine Mutter mich mit einer hellblauen Strickstrumpfhose in den Sportunterricht schickte, die mich vor Schürfwunden schützen sollte. Endgültig auf null war er dann wohl, als meine Mutter auf der Geburtstagsfeier meiner heimlichen Flamme Gaby Haas auftauchte, um Gabys Eltern eine Liste meiner Lebensmittelallergien zu überreichen.
Onkel Abdullah setzt sich wieder ans Steuer, fährt die zehn Meter bis zur nächsten Rotphase und trottet dann, arabische Verse murmelnd, über den Mittelstreifen, um das Navi zurückzuholen. Er wischt es sorgfältig mit einem Taschentuch trocken, schließt es wieder an und seufzt tief:
»Weißt du, Daniel … Wichtigste im Leben … ist Vergebung.«
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16
Noch 15 Stunden, 30 Minuten bis zur Hochzeit.
Ich befinde mich auf dem Weg zur Wohnung der Denizo ğ lus, wo ich Onkel Abdullahs Koffer abliefern werde,
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