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Der Botschafter

Der Botschafter

Titel: Der Botschafter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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nicht mehr viele Möglichkeiten blieben. Kehrte sie zu dem Wohnwagen zurück oder versuchte, sich im North Wood zu verstecken, würde sie verhaftet werden.
    Bis es hell wurde, blieben ihr noch drei Stunden, in denen sie versuchen mußte, die Norfolk Coast möglichst weit hinter sich zu lassen. Den Vauxhall konnte sie nicht benützen; der Wagen stand auf dem Campingplatz und wurde bestimmt von der Polizei überwacht.
    Ihr blieb nur eine Möglichkeit.
    Sie mußte marschieren.
    Rebecca hob ihren Rucksack auf. Er enthielt ihr Geld, ihre Landkarten und ihre Walther. Norwich lag zwanzig Meilen weiter südlich. Sie konnte die Stadt am frühen Vormittag erreichen. Dort konnte sie sich neue Kleidung kaufen und ein Hotelzimmer nehmen; dort konnte sie ihre Haare färben, um ihr Aussehen zu verändern. Von Norwich aus konnte sie mit dem Bus nach Harwich weiterfahren, wo es einen großen Fährhafen mit Linien nach ganz Europa gab. Mit einer Nachtfahre nach Holland konnte sie am nächsten Morgen auf dem Kontinent sein.
    Sie nahm ihre Pistole aus dem Rucksack, schlug ihre Kapuze hoch und marschierte los.

MÄRZ
     
29 
    AMSTERDAM • PARIS
     
    Amsterdam war eine Stadt, die Delaroche liebte, aber nicht einmal Amsterdam mit seinen spitzgiebligen Häusern und malerischen Grachten konnte die Depressionen vertreiben, die ihn in diesem Winter wie grauer Nebel einhüllten. Er hatte sich eine Wohnung mit Blick auf einen kleinen Verbindungskanal zwischen Herengracht und Singelgracht gemietet. Die Zimmer waren groß und luftig, und die zweigeteilten Fenster und Balkontüren ließen sich zum Wasser hin öffnen, aber Delaroche ließ die Vorhänge geschlossen, wenn er nicht gerade arbeitete.
    Die Einrichtung bestand praktisch nur aus einem Bett, seinen Staffeleien und dem großen Sessel neben der Balkontür, in dem er an den meisten Abenden bis in die Nacht hinein las. An einer Wand in der Diele standen seine beiden Fahrräder: ein italienisches Re nnrad, mit dem er im flachen Holland weite Strecken zurücklegte, und ein deutsches Mountain Bike fürs Amsterdamer Straßenpflaster. Delaroche weigerte sich, sie in dem Radschuppen vor der Haustür abzustellen, wie die übrigen Hausbewohner es mit ihren Rädern taten. In Amsterdam gab es einen riesigen Schwarzmarkt für geklaute Räder, selbst für die klapprigen City Bikes, die von den meisten Leuten benützt wurden. Sein Mountain Bike wäre binnen Minuten von Profis geklaut worden.
    Es war ganz ungewöhnlich für ihn, aber in letzter Zeit war er geradezu von seinem eigenen Gesicht besessen und ging mehrmals täglich ins Bad, um sein Spiegelbild anzustarren. Er war nie eitel gewesen, aber er haßte, was er jetzt vor sich sah, weil es seinen künstlerischen Sinn für Proportion und Symmetrie beleidigte. Um den quälend langsamen Heilungsprozeß zu dokumentieren, machte er jeden Tag eine Bleistiftskizze von seinem Gesicht. Wenn er nachts allein im Bett lag und nicht einschlafen konnte, befingerte er die Kollagen-Implantate in seinen Wangen.
    Schließlich heilten die Schnitte ab, die Schwellungen gingen zurück, und sein Gesicht erwies sich als langweilige, ziemlich häßliche Mischung aus nicht recht zusammenpassenden Zutaten.
    Leroux, der plastische Chirurg, hatte recht: Delaroche erkannte sich selbst nicht mehr. Einzig seine Augen waren unverändert scharf und ausdrucksvoll, aber sie waren jetzt von Langweiligkeit und Mittelmäßigkeit umgeben.
    Aus Sicherheitsgründen hatte Delaroche nie ein Selbstporträt gemacht, aber kurz nach seiner Ankunft in Antwerpen malte er ein Bild, das in seiner Intensität erschreckend war - ein sehr häßlicher Mann starrt in einen Spiegel, in dem ein schöner Mann seinen Blick erwidert. Dieses Spiegelbild war Delaroche vor seiner Operation. Da er kein Foto seines früheren Gesichts hatte, mußte er es aus dem Gedächtnis malen. Er ließ das Bild ein paar Tage lang an eine Wand seines Ateliers gelehnt stehen, aber dann siegte seine Paranoia doch, und er zerschnitt die Leinwand und verbrannte sie in dem offenen Kamin.
    An manchen Abenden, an denen er sich langweilte oder ruhelos war, besuchte Delaroche die Nachtclubs an der Leidseplein. Bisher hatte er Bars und Nachtclubs eher gemieden, weil er damit rechnen mußte, daß allzu viele Frauen sich für ihn interessierten. Jetzt konnte er stundenlang dasitzen, ohne belästigt zu werden.
    An diesem Morgen stand er früh auf und kochte Kaffee. Dann loggte er sich in seinen Computer ein, sah nach, ob er eine E-Mail hatte

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