Der Bourne Verrat: Roman (German Edition)
nachzudenken, was sie in Anunciatas Tagebuch gelesen hatte. Letzte Woche war sie zufällig unter dem Bett darauf gestoßen, als sie im Zimmer ihrer Tochter sauber gemacht hatte. Maria-Elena erinnerte sich noch genau an den Augenblick, als sie das Buch in den Händen gehalten hatte und ihr klar geworden war, dass es ein Tagebuch war. Auch an den schicksalhaften Moment, bevor sie das Tagebuch aufschlug, als alles noch so war wie immer. Fast hätte sie es gar nicht geöffnet. Sie hatte sich sogar schon hinuntergebeugt, um es ungelesen wieder unter Anunciatas Bett zu schieben. Was wäre dann passiert? Ihre Welt wäre nicht aus den Fugen geraten und für immer eine andere geworden.
Doch die Neugier war in ihr hochgekrochen wie eine heimtückische Schlange, irgendetwas hatte sie daran gehindert, es wieder zurückzulegen. Sie war nicht einmal aufgestanden. Auf den Knien, wie im Gebet, hatte sie das verbotene Buch geöffnet und gelesen, was sie niemals hätte lesen sollen. Denn gegen Ende stieß sie auf jene Zeilen, die ihr das Hirn versengten. Hätte sie sich nicht die Faust in den Mund gesteckt, sie hätte laut aufgeschrien.
Anunciata – ihre Tochter, ihr einziges Kind – teilte regelmäßig das Bett von Maceo Encarnación. In allen schauderhaften Details las sie, wie sich das erste Mal zugetragen hatte, und jedes weitere Mal danach. Maria-Elena knallte das Tagebuch zu. Ihr Kopf brannte, doch ihr tödlich verwundetes Herz war bereits zu Asche zerfallen.
Sie nahm ein Blatt Papier aus ihrer Handtasche, faltete es auseinander und begann langsam, mit steifer Handschrift zu schreiben. Tränen liefen ihr über die Wangen und tropften auf das Papier. Es war ihr egal. Ihr Herz quoll über vor Scham und Kummer, doch das konnte sie nicht aufhalten. Grimmig schrieb sie weiter, bis sie zum bitteren Ende gelangte. Dann faltete sie das Blatt zusammen, ohne noch einmal zu lesen, was sie geschrieben hatte. Warum auch? Es hatte sich ohnehin in ihr Herz gebrannt.
Wie besessen von der heimtückischen Schlange warf sie ein paar Geldscheine auf den Tisch und eilte den Bürgersteig hinunter. Sie kehrte zur Piel-Canela-Boutique zurück, trat ein und zog, von der Schlange getrieben, die Kreditkarte hervor, mit der sie die Einkäufe für Maceo Encarnación bezahlte, um die ersehnte Tasche und die Handschuhe zu kaufen. Sie strich mit den Händen über das weiche Leder, ließ beides als Geschenk verpacken und sah zu, wie die Verkäuferin die schönen Stücke in pastellfarbenes Krepppapier einwickelte und sorgfältig in eine dicke Schachtel legte, auf der in Goldprägung der Name der Boutique stand. Auf die Karte, die ihr die Frau reichte, schrieb sie den Namen ihrer geliebten Tochter. Und darunter: »Für dich.«
Als sie in die grelle Sonne hinaustrat, blieb sie auf dem Bürgersteig stehen, unfähig, noch einen Schritt zu gehen. Ihre Beine versagten ihr den Dienst, und ein jäher Schmerz durchzuckte die linke Seite ihrer Brust. Dios , was geschah mit ihr? Sie hatte plötzlich einen scheußlichen Geschmack im Mund. Schwindel überkam sie, und sie sank zu Boden. Laute Rufe und eilige Schritte drangen wie ferne Echos zu ihr, als hätten sie nichts mit ihr zu tun.
Sie lag da und starrte in den dunstigen Himmel, und wieder kamen ihr die Tränen, und ein Schluchzen entrang sich ihr aus der Tiefe ihres Inneren, wo die heimtückische Schlange ihre gespaltene Zunge hervorschnellen ließ. Ihre Gedanken flackerten am Rande einer tödlichen Bewusstlosigkeit und kehrten zu der einzigen Sache zurück, die noch zählte: dem Augenblick der Wahrheit vor einer Woche.
Die Katastrophe war ihre Schuld. Hätte sie es Anunciata nur gesagt, doch sie hatte ihrer Tochter die schändlichen Tatsachen ihrer Herkunft ersparen wollen. Nun war die Mutter im Tagebuch ihrer Tochter mit den gleichen schändlichen Tatsachen konfrontiert worden: Mutter und Tochter hatten beide das Bett mit dem allmächtigen Mann geteilt und die gleiche Schande erfahren. Maceo Encarnación war Anunciatas Vater. Und jetzt war er auch ihr Liebhaber.
Das war der letzte Gedanke, bevor das Gift, das ihr jemand ins Getränk gemischt hatte, ihr Herz zum Stillstand brachte.
Martha Christiana saß tief in Gedanken versunken auf ihrem Platz, während sie von Gibraltar nach Paris zurückflogen. Don Fernando blätterte den neuen Robb Report durch. Sie blickte aus dem Fenster auf den endlosen blauen Himmel hinaus. Unter ihr bauschten sich die Wolken so dicht, dass sie sich vorstellte, sie könnte sich
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