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Der Brennende Salamander

Der Brennende Salamander

Titel: Der Brennende Salamander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Bayer
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zusammengetragen, auf denen jeder genau sehen konnte, was es bedeutete, gevierteilt, gehängt, verbrannt, geköpft oder gesteinigt zu werden. Es fehlte ihm nur noch die Darstellung einer Kreuzigung wie im alten Rom, für die er bereit war, einen halben Florin auszugeben.
    Sein Kopf ist krank, hatte Rocco einmal gesagt. Ich kann mir nur vorstellen, daß er damals zu lange in der Kälte zugebracht hat, als sie ihn in die pila legten, und die Glocke in jener Nacht nicht gehört wurde, so daß sie ihn erst im Morgengrauen fanden.
    Mich haben sie auch erst im Morgengrauen gefunden, hatte daraufhin Daniele aufgetrumpft.
    Aber du bist nicht die ganze Nacht über draußen in der Kälte gelegen, hatte Rocco erwidert. Und im übrigen bist du überhaupt nie in einer pila gelegen und hast auch nie zu uns ins Ospedale gehört. Du bist ihnen davongelaufen, deinen zwei, drei oder vier Müttern. Und zwar in Rom.
    Nichts ist uns lieber als Gespräche dieser Art, wenn wir unter uns sind. Dann kann einer den anderen übertrumpfen mit seiner Geschichte, wie es denn damals gewesen sein könnte. Wir können Tage und Nächte darüber diskutieren, wer was wem voraushat, und wir können jeden anderen, der keiner der innocenti ist,damit bis ins Mark schockieren. Manchmal ist Sebastiano bei uns, der uns damals alles erzählt hat, was jeder von uns wissen wollte. Und doch wissen wir heute, da wir das Ospedale längst verlassen haben, noch immer nicht viel. Sebastiano, der später das Amt des Schreibers im Ospedale anstrebte, um noch mehr über sich und seine Geburt zu erkunden, erfuhr, als ihm alle Bücher zur Verfügung standen, auch nicht mehr. Damals, als er uns nächtelang Auskunft gab, versuchte einer den anderen mit einer Mutter auszustechen, die er nie gesehen hat. Mütter, die wir uns zusammenphantasierten, aus Bausteinen zusammensetzten, wie es uns gefiel. Mutmaßungen, die höchstens am Rande das berührten, was uns wirklich betraf. Aber das störte uns nicht. Jeder ließ dem anderen das, was er glauben wollte, auch wenn es noch so unwahrscheinlich klang. Und jeder von uns war auch bereit, dafür zu zahlen, da Sebastiano damals ziemlich viel riskierte, um an die entsprechenden Nachrichten zu kommen. Natürlich zahlten wir nicht mit Geld, das wir nicht hatten, sondern mit einem Apfel, einer Handvoll Nüsse, etwas Farbe oder einem Fetzen Seide.
    Jetzt, während wir hier am Ufer des Arno saßen und unsere Fische auf langen Spießen über dem Feuer brieten, sahen wir für jeden Vorübergehenden so aus, als seien wir fröhliche junge Männer aus dieser Stadt, Maler vielleicht, Färber, Gürtler, Riemer, Schwertfeger oder wie all die Berufe hießen, die es in Florenz gab. Wir sangen und waren der Meinung, daß wir fünf zufrieden sein konnten. Wir hatten ein Dach über dem Kopf, das uns nichts kostete, wir hatten eine bottega, für die Leonello zuständig war, wir waren bis auf Daniele aus dem Lehrlingsalter herausgewachsen und hofften, eines Tages einen Platz zu finden, der uns angemessen war.
    Tagsüber wirkten wir nach außen hin so, als habe jeder von uns eine ungestörte Jugend gehabt. Nachts jedoch holt uns die Vergangenheit ein. Heute genauso wie damals.
    Wir sehen uns dann in dem großen Schlafsaal sitzen, in einem einzigen Bett. Die Decken um unsere Schultern gezogen, hören wir uns an, was es von uns oder auch von anderen zu berichten gibt. Wir tauschen die kargen Angaben aus den wohlgehüteten Büchern aus, die unsere Geburt umgeben: Venerdì , die detto 25, fu misa di una donna fasciata  … Dann, ob ein Amulett, welche Kleider oder was sonst noch von Wichtigkeit gewesen war. Die ›verhüllte Frau‹ zog sich durch die Notizen hindurch: una donna fasciata .
    Eine gewisse Lucrezia zum Beispiel, am gleichen Tag wie ich in die pila gelegt, hatte nur einen Eintrag von zwei Zeilen aufzuweisen und dann nichts weiter, als den Tag ihres Todes zwei Monate später. Und ein Kreuz natürlich. In manchen Jahren wurden neun von zehn gettatelli vom Tod ereilt, noch ehe sie laufen konnten. Wenn man mit dem Finger die Spalten der Bücher entlangfuhr, gab es Strecken, die nur aus Kreuzen bestanden. Seitenlang mit schwarzer Tinte gemalte Kreuze, die sich ständig wiederholten. Es sei die Zeit der Pest oder der Cholera gewesen, hieß es, aber niemand weiß, ob es auch wirklich stimmt. Rocco steht mit dem, was er über sich weiß, an der Spitze: Außer dem Datum seiner Ablieferung im Ospedale degli innocenti gibt es ein Amulett und eine Schnur aus

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